Entfernte Verwandtschaften

Wie viel Faschismus steckt in Russlands Herrschaftssystem? Unterschiede und Ähnlichkeiten

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PICTURE ALLIANCE/AP | SERGEI KARPUKHIN
Dunkelkammer: Wladimir Putin in Moskau, April 2023.
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PICTURE ALLIANCE/AP | SERGEI KARPUKHIN
Dunkelkammer: Wladimir Putin in Moskau, April 2023.

Entfernte Verwandtschaften

Wie viel Faschismus steckt in Russlands Herrschaftssystem? Unterschiede und Ähnlichkeiten

Wie sehr ähnelt das Herrschaftssystem des russischen Präsidenten Wladimir Putin dem historischen Faschismus und Nationalsozialismus? Diese Frage wird aktuell in Geschichts- und Politikwissenschaft kontrovers diskutiert. Für den amerikanischen Historiker Timothy Snyder ist die Sache eindeutig: „Wir sollten es sagen. Russland ist faschistisch.“ So lautete der Titel eines Artikels, den er im Mai vergangenen Jahres für die New York Times verfasste. Seiner Ansicht nach erfüllt der Putinismus zahlreiche Elemente des Faschismus: Personenkult, Verherrlichung einer idealisierten Vergangenheit, extremer Nationalismus, Kriegs- und Todeskult u.v.m. Deutsche Historikerinnen sind mit solchen Vergleichen meist vorsichtiger, da der deutsche Nationalsozialismus noch einmal eine Sonderform des Faschismus darstellte. Besonders Experten für die Geschichte des Holocaust, etwa der Berliner Historiker Thomas Sandkühler, warnen deswegen eindrücklich vor leichtfertiger Gleichsetzung. Denn es gibt auch eindeutige Unterschiede zwischen den Herrschaftssystemen: So ist „Einiges Russland“ zwar ein Machtvehikel Putins, doch der Partei fehlt eindeutig die Mobilisierungsfunktion der NSDAP oder auch der italienischen PNF (Partito Nazionale Fascista). Zudem ist der Personenkult nicht vergleichbar: Putin war und ist ein Herrscher, den man in Russland erträgt, aber nicht huldigt oder ihn verherrlicht wie Hitler oder Mussolini. Zwar ist er allgegenwärtig und „verkörpert“ (auch durch seine Inszenierung als „Tough Guy“ mit nacktem Oberkörper) den russischen Staat, doch gilt er gemeinhin als das geringere Übel und einziger Garant vor Chaos und Staatszerfall. Putin, mittlerweile seit mehr als 22 Jahren an der Macht, kann ohnehin keine glaubwürdige Dynamik einer „Bewegung“ gegen die etablierte Ordnung inszenieren, wie es die faschistischen Parteien taten. In Russland fehlt außerdem die extreme völkische „Blut und Boden“-Rhetorik und der fanatische Antisemitismus, der besonders den Nationalsozialismus in Deutschland ausmachte. Russland inszeniert sich sogar als „integratives Imperium“, in dem alle Völkerschaften und Ethnien – unter der Hegemonie russischer Kultur – aufblühen könnten. Dennoch lassen sich die Parallelen zum historischen Faschismus und Nationalsozialismus nicht einfach beiseiteschieben.

Konkret geht es dabei nicht nur um die Form und Praxis von Herrschaft, sondern um Ideologie und Weltbild. Besonders in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs lassen sich erstaunliche Ähnlichkeiten in der Propaganda des nationalsozialistischen Deutschlands zum heutigen Russland finden. Beide betrachteten sich als Opfer einer ungerechten und „unnatürlichen“ Friedens- und Staatenordnung, die ihnen aufgezwungen worden sei. Den Hauptfeind machte Deutschlands Propagandachef Joseph Goebbels 1939 in den demokratischen Staaten des Westens aus, allen voran Frankreich und Großbritannien. So schrieb er in einem Artikel vom 1. April 1939, dass deren Konzepte von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und „Humanität“ lediglich eine Fassade seien, hinter der tatsächlich „einflussreiche Cliquen und Zirkel, die an einem Krieg Interesse haben“ stehen würden. Die westlichen Demokratien seien „Kriegshetzer“, welche die Völker gegen ihren Willen gegeneinander aufbrächten. Diese vermeintliche „Internationale der Zersetzung“, so Goebbels, hätte sich außerdem gegen traditionelle Werte, Kultur und Geschichte verschworen. Ähnliche Verschwörungstheorien sind heute regelmäßig vom Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrats Nikolai Patruschew, Außenminister Sergej Lawrow und auch Putin selbst zu hören. Besonders extrem ist dabei Ex-Präsident Dmitri Medwedew, der auf seinem Telegramkanal auch in der Sprache die Propaganda des Nationalsozialismus zu imitieren scheint.

Im Frühjahr 1939 ließ Hitler seiner martialischen Rhetorik auch Taten folgen, mit der Tschechoslowakei als erstem Opfer. Deutschland brach nach knapp einem halben Jahr das „Münchner Abkommen“, in dem die Tschechoslowakei gezwungen war, das Sudetenland abzutreten. Am 15. März 1939 marschierten deutsche Truppen in die verkleinerte und wehrlose Tschechoslowakei ein und lösten ihre Staatlichkeit endgültig auf. Diesen eklatanten Bruch des Völkerrechts rechtfertigte Hitler damals mit den „lebenswichtigen Interessen“ und der „tausendjährigen Geschichte“ Deutschlands in der Region. Er behauptete in seiner Proklamation vom 15. März 1939, dass „zahlreiche Deutsche“ Opfer tschechischer „Banden“ geworden seien. Er habe keine andere Wahl gehabt, als die deutsche Sprache und Kultur in der Tschechoslowakei zu schützen und diese „untertäglichen Zustände“ mit Hilfe des Militärs zu beenden. Putins Propaganda vom „Verbot russischer Sprache“ in der Ukraine und dem „Genozid im Donbas“ ist davon nicht weit entfernt. Das nationalsozialistische Deutschland verlangte 1939 außerdem den endgültigen Bruch mit der etablierten Staats- und Rechtsordnung in Europa. Jeder souveräne Staat solle seine eigenen Interessen verfolgen können, statt sich an „aufgezwungene“ internationale Regeln zu halten. Der Rechtsphilosoph Carl Schmitt (1888-1985) oder der SS-Jurist Werner Best (1903-1989) argumentierten, dass Großmächte – zu denen Deutschland nun dank Hitler wieder zählen würde – innerhalb ihrer historischen „Interessensphären“ das Recht selbst bestimmen könnten.

Aus dem geistigen Umfeld Schmitts stammte auch der heute weit weniger bekannte österreichische Schriftsteller Karl Anton Prinz Rohan (1898-1975). Dieser wollte mit seinen „geopolitischen“ Konzepten von „Mitteleuropa“ und „Abendland“ eine Synthese christlich-konservativer und nationalsozialistischer Ideen schaffen. Und darin liegt auch die stärkste inhaltliche Nähe zu Putins Denken, der sich in seinen Reden immer wieder auf den russisch-nationalen Vordenker und christlich-konservativen Philosophen Iwan A. Iljin (1883-1954) beruft. Dieser lebte in den 1920er- und 1930er-Jahren im Exil in Deutschland und pflegte eine enge ideologische Verbindung zu den Kreisen der sogenannten „Konservativen Revolution“ um Carl Schmitt. Dies wird besonders sichtbar, wenn man Putins Rede nach der „Annexion“ der östlichen Oblaste der Ukraine (Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk) vom 30. September 2022 mit Rohans Leitartikel „Am Weg zum neuen Mitteleuropa“ aus dem Völkischen Beobachter (Wiener Ausgabe) vom 5. April 1939 vergleicht. In beiden Texten geht es um die Überwindung einer „ungerechten“ Friedensordnung, den Schutz eigener Kultur und Traditionen vor den „schädlichen“ Einflüssen von außen, ein neues multipolares Machtsystem und die Zurückweisung des westlichen Liberalismus. Unter der „Fahne des deutschen Friedens“ sollen alle Völker in Mitteleuropa „ihre arteigene völkische Entfaltung“ erhalten, so Rohan 1939. Putin sprach 2022 vom „Recht auf eigenständige, schöpferische und autonome Entwicklung“ gegen die „Verhöhnung des Glaubens und der traditionellen Werte“ durch den westlichen Liberalismus.

Im September 1939 folgte der deutsche Überfall auf Polen, der schließlich den Zweiten Weltkrieg in Europa auslöste. Hitler argumentierte wieder ähnlich wie bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei und sprach in seiner Rede in Danzig am 19. September 1939 vom „Lebensrecht einer großen Nation“, das die westlichen Demokratien in Frage gestellt hätten: „Diese demokratische fromme Welt sah zu, ohne mit der Wimper zu zucken“, als die Rechte der Deutschen in Polen bedroht worden seien, so der Diktator. Polen sei von den Herren des „großbritannischen Weltreichs“ manipuliert und ausgenutzt worden, um „für die Ideale der westlichen Demokratien in die Bresche zu springen“, wie er ironisch anmerkte. Deutschlands Ziele seien dagegen nur der Schutz seiner legitimen Interessen. Putins Argumentation seit dem Februar 2022 klingt ähnlich, so stünde die Ukraine als „Anti-Russland“ im Dienst feindlicher westlicher Mächte.

Welche Schlussfolgerungen müssen wir nun aus diesen Ähnlichkeiten in Argumentation, Rhetorik und Weltbild zwischen dem historischen Nationalsozialismus und Putins Russland ziehen? Putin selbst begründet schließlich seine „militärische Spezialoperation“ mit dem Kampf gegen „Neonazis“ und verlangt, wie die Sowjetunion 1945 gegenüber Deutschland, die „Denazifizierung“ der Ukraine. Russland sieht sich als einziger legitimer Nachfolgestaat der Sowjetunion, die nach dem Überfall Hitlers im Jahr 1941 Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges wurde. Schließlich war es auch die Rote Armee, welche die deutschen Vernichtungslager befreite und den Holocaust beendete. Zu Recht stehen daher Vergleiche aktueller Regime mit dem Nationalsozialismus immer unter Vorbehalt – besonders wenn es um Russland geht. Zumindest lassen sich in den Feindbildern des Nationalsozialismus von 1939 und dem Russland von heute erschreckende Parallelen feststellen, die beim Vergleich von Reden und Texten kaum zu übersehen sind: Opfermythen, Hass auf eine liberal-demokratische Rechts- und Staatenordnung, Anspruch auf „Interessensphären“ und schließlich die Vorstellung der „gekränkten“ Großmacht.

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