Brandt, Barzel, Strauß – die unerzählte Geschichte des Misstrauensvotums 1972
Brandt, Barzel, Strauß – die unerzählte Geschichte des Misstrauensvotums 1972
Am 4. September 2006 erschien im Spiegel in der Rubrik „Gestorben“ ein Nachruf auf Rainer Barzel, der so begann: „Er war einer der Großen in der damals noch jungen Bonner Republik – nur knapp verfehlte er 1972 beim konstruktiven Misstrauensvotum gegen Willy Brandt die Kanzlerschaft. Von der Stasi bezahlte Überläufer, aber auch bis heute unbekannte Verräter aus den eigenen Reihen – er selbst zählte Franz Josef Strauß dazu – hatten ihm die Stimme verweigert.“ (Spiegel 36/2006).
Der Kurz-Nekrolog stammte von mir. Die Redaktion wusste, dass ich Barzel ein paar Male begegnet war und hatte mich deshalb gebeten, den Nachruf auf ihn zu verfassen. Ich übernahm diese Aufgabe deshalb besonders gern, weil ich seit zwei Jahren ein Geheimnis mit mir herumtrug, das zu lüften mir erst nach Barzels Tod gestattet war. Da der Platz begrenzt war und nicht sehr viel Zeit zum Schreiben, feilte ich so lange an der Botschaft, die ich loswerden wollte, bis sie in diese sieben Worte passte: „Er selbst zählte Franz Josef Strauß dazu.“
Nun wartete ich gespannt, welche Wirkung diese kleine zwischen zwei Gedankenstrichen versteckte Bombe entfalten, ob sich irgendjemand rühren, Anstoß nehmen oder mit juristischen Schritten drohen würde. Es passierte – nichts! Es gab kein Echo, keine Reaktion, auch nicht von der Strauß-Familie, die sonst jeden mit Prozessen überzog, der Abfälliges über FJS verbreitete.
Zwei Jahre vor seinem Tod hatte Rainer Barzel mir in einem langen Vier-Augen-Gespräch die Sensation anvertraut. Er wisse inzwischen, dass Strauß ihn am 27. April 1972 beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt nicht gewählt habe. Erst habe der CSU-Chef ihn bedrängt, ihn geradezu genötigt, das Misstrauensvotum endlich zu wagen, dann habe er ihn ins Messer laufen lassen und sich der Stimme enthalten. Neben Julius Steiner und Leo Wagner sei er also der dritte Abtrünnige aus dem Lager der CDU/CSU gewesen. Barzel wörtlich: „Das meine ich nicht nur, sondern das weiß ich genau. Aber wenn Sie das zu meinen Lebzeiten schreiben, werde ich Sie durch alle Instanzen verklagen.“
Ich mochte das Gehörte kaum glauben. Ausgerechnet Strauß, der den Verlust der Regierungsmacht nach 1969 nie verwunden hatte, sollte die Chance ungenutzt gelassen haben, den SPD-Kanzler Brandt zu stürzen und selbst wieder Macht und Einfluss in Bonn zu gewinnen? Ausgerechnet er, der Kommunistenhasser, sollte plötzlich gemeinsame Sache mit Moskau und Ost-Berlin gemacht haben, nur um Barzel als Kanzler zu verhindern?
Es schien mir auf den ersten Blick absurd, wenn auch, auf den zweiten, nicht völlig ausgeschlossen. Strauß hatte immer eine hohe Meinung von sich selbst und eine entsprechend geringe von allen anderen möglichen Kandidaten und Aspiranten der CDU/CSU. Das ist hinreichend belegt. Nie hat er Barzel verziehen, dass der zu den Ostverträgen kein klares „Nein!“, sondern nur ein halbherziges „So nicht!“ sagen mochte. Er hielt ihn für ein Weichei. Und den Nachfolger im Parteiamt, Helmut Kohl, erst recht. Dem prophezeite er 1976 nach der hauchdünn verlorenen Bundestagswahl sogar, er werde „nie Kanzler werden. Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen. Ihm fehlt alles dafür.“ Ein Irrtum, wie man inzwischen weiß.
Gut möglich also, dass er auch die Wahl Barzels zum Kanzler hintertrieben hat. Aber da dieser nicht bereit war, seine Verdächtigung in einem Interview zu wiederholen, da er mir sogar mit Klage gedroht hatte, sollte ich sie publik machen, ließ ich es sein. Ich hatte keine Beweise. Strauß war seit 16 Jahren tot. Zeugen gab es nicht. Das Tonband, das während unserer Unterhaltung lief, hatte ich auf Barzels Geheiß ausstellen müssen, als wir auf das Misstrauensvotum von 1972 zu sprechen kamen. Ich konnte den Verrat nicht an die Glocke hängen. Es gab kein Dokument, das die Nachricht hätte stützen können. Barzel war mein einziger Zeuge, meine einzige Quelle.
Die sieben Worte im Nachruf waren also das Äußerste, was journalistisch möglich und vertretbar war. Trotzdem ließ mich die Sache nicht los. Zumal das Misstrauensvotum selbst und die damit verknüpfte Steiner-Wienand-Affäre zu den wenigen ungelösten Rätseln der Bonner Republik zählen, die mich mein ganzes Berufsleben immer irgendwie beschäftigt haben. So jedenfalls, wie es im Sommer 1973 dargestellt und beschrieben worden war, kann es mit Sicherheit nicht gewesen sein. Und auch das, was später anhand von Stasi-Akten bekannt wurde und, ergänzt durch die Äußerungen des früheren DDR-Spionagechefs Markus Wolf, inzwischen in den Geschichtsbüchern steht, ist bestenfalls die halbe Wahrheit.
Die ganze kann auch ich nicht liefern.
Ich glaube aber, dass das, was sich in dem Roman „Verrat am Rhein“ und der Romanfigur Zink am Ende erschließt, der historischen Wahrheit am nächsten kommt. Wären seine (und meine) Schlussfolgerungen beweisbar, dann wäre das Buch, das ich geschrieben habe, kein Roman geworden, sondern ein journalistischer Report oder eine wissenschaftliche Dokumentation.
Es ist aber ein Roman, eine fiktive Erzählung, die allerdings in einem realen, historisch-politischen Umfeld spielt. Einige Personen, die in dem Roman auftauchen, haben tatsächlich gelebt (siehe Personenverzeichnis), andere wiederum sind erfunden. Wieder andere, zum Beispiel der Bonner Waffenhändler Martini, heißen nur im Roman so. Vieles, was dort passiert, hat auch in der Wirklichkeit stattgefunden. Anderes wiederum nicht.
Die Ereignisse am und im Umfeld des 27. April 1972 sind historisch verbürgt, ebenso ein Jahr später die Lügengeschichten des Julius Steiner. Den Spion Heinrich Sauerborn, die Zwillinge Alexander und Bruno, die Stasi-Agentin Anita und den düsteren Spitzel Konrad Köhler gibt es aber nur im Roman. Und auch die Akte „Maskerade“, darauf muss nachdrücklich hingewiesen werden, ist eine Erfindung. Es gibt sie nicht. Sie befand sich weder in Barzels Besitz noch habe ich sie jemals gesehen. Ich habe sie erfunden, um Zinks Verdacht zu unterfüttern, dass Barzels Scheitern vom CSU-Chef Strauß durchaus gewollt, wenn nicht sogar geplant war. Die Akte „Maskerade“ verleiht dieser naheliegenden, öffentlich bislang jedoch nie beachteten Vermutung, die der Journalist beweisen müsste, der Romancier jedoch ungestraft verbreiten darf, jenes Maß an Plausibilität, die es braucht, um Leserinnen und Leser zu fesseln und zu überzeugen.
So entstand zwar kein Enthüllungsroman. Wohl aber der Roman einer Enthüllung.