Erklärt mehr!

Die Anfangsprobleme der deutschen Impfkampagne überstrahlen völlig, um was es eigentlich geht

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PICTURE ALLIANCE/ROBIN UTRECHT
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Erklärt mehr!

Die Anfangsprobleme der deutschen Impfkampagne überstrahlen völlig, um was es eigentlich geht

Die Pandemie-Entwicklung in Deutschland bringt seit Tagen einen traurigen Rekord nach dem anderen hervor, täglich sterben so viele Menschen mit Covid-19 wie noch nie seit Beginn dieser Naturkatastrophe. Doch wo vor allem Demut angebracht wäre und Disziplin bei jedem Einzelnen, um Kontakte streng einzuschränken, leistet sich dieses Land eine scharfe Debatte um das Impfen, bei der einem schwindlig werden kann. Und das meiste geht dabei heillos durcheinander.

Zum einen ist da die Frage einer Impfpflicht, die jetzt noch einmal an Bedeutung gewinnt, weil offenbar vielerorts Menschen in Pflegeberufen zurückhaltend sind, während sie gemeinsam mit den Hochbetagten schon jetzt impfberechtigt wären. Dabei haben die Menschen vielfach schlicht Fragen, die eine große Mehrheit umtreiben und die berechtigt sind: vorneweg die nach möglichen Nebenwirkungen. Immerhin handelt es sich bei den ersten bislang zugelassenen sogenannten mRNA-Impfstoffen in der EU um eine völlig neue Technik.

Die Erfurter Gesundheitspsychologin Cornelia Betsch hat zuletzt Mitte Dezember in ihrer unter anderem zusammen mit dem Robert Koch-Institut zweiwöchentlich erstellten Covid-19-Cosmo-Studie eine klare Empfehlung an die Politik ausgegeben: „Wie immer gilt: Regelmäßige transparente Aufklärung über den Stand der Entwicklung und die Arten der neu entwickelten Impfstoffe kann helfen, das Vertrauen zu stärken. Eine Mobilisierung von Ressourcen, um aufkommende Fragen schnell beantworten zu können, ist ratsam, um die Einführung eines Corona-Impfstoffs optimal vorzubereiten.“ Das gilt für die Kommunikation der Politik genauso wie für die Berichterstattung in den Medien.

Es ist auch ein Hinweis an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Denn nach den regelmäßig durchgeführten Cosmo-Umfragen kam sogar ein konkretes Verlangen heraus: Die Deutschen hätten gerne mehr „Erklärvideos“ zu den neuartigen Impfstoffen, die jetzt aus der Krebsforschung hervorgegangen sind. Selten wurden Wünsche von Mediennutzern so konkret erhoben. Fraglich ist, ob die angesprochenen Politiker in ihren Pressekonferenzen dieses Informationsbedürfnis der Menschen tatsächlich auch berücksichtigen.

Gleichzeitig tobt vor allem in den sozialen Medien ein Gezwitscher um die „Impfbereitschaft“. Da fordern die einen eine Impfpflicht, und ein paar wenige andere fabulieren im Extremfall von irgendwelchen Mikrochips aus der Spritze. Letzteren kann man womöglich nicht mehr helfen. Tatsächlich ist die Bereitschaft, sich gegen das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 impfen zu lassen, in Deutschland konstant stabil auf hohem Niveau. Nach einer Studie des Hamburger Gesundheitsökonomen Jonas Schreyögg waren es im vergangenen Sommer mehr als 50 Prozent. Nach dem ARD-Deutschlandtrend von dieser Woche steigt die Zahl jener, die sich „auf jeden Fall“ impfen lassen wollen, auf 54 Prozent. Hinzu kommen 21 Prozent, die sich „wahrscheinlich“ impfen lassen wollen. Letztere sind ganz offensichtlich Menschen, die – man ahnt es schon – schlicht noch mehr Informationen möchten, um sich dann letztlich für die Impfung zu entscheiden. Eine Impf-Aufklärung ist übrigens nach deutschem Recht verpflichtend und geschieht bei jeder bislang schon durchgeführten Impfung schlicht in der Hausarztpraxis. In den jetzt aufgebauten Impfzentren der Republik steht vor jedem Piks entsprechend ein Aufklärungsgespräch.

Es sind also drei Viertel der Deutschen grundsätzlich bereit, sich impfen zu lassen. Und da macht es bei den Epidemiologen klick: Denn nach ihren Modellen ist die sogenannte Herdenimmunität gegen Covid-19 sehr wahrscheinlich bei 70 Prozent der Bevölkerung erreicht. Wenn also so viele Menschen gegen das Virus immun sind, hat Covid-19 keine Chance mehr. Das ist bekannt durch die Erforschung anderer Virus-Erkrankungen wie der Masern und kann von jedem, der mag, nachvollzogen werden. Zum Beispiel auf den Internetseiten der Forschungsgruppe für komplexe Systeme der Berliner Humboldt-Universität.

Bleibt der dritte Vorwurf in der Debatte, der einen nicht minder schwindlig werden lässt: Die EU-Kommission habe es versäumt, rechtzeitig genügend Impfstoff zu bestellen. Tatsächlich hat Berlin mit anderen EU-Regierungen die EU-Kommission beauftragt, für alle EU-Bürger gemeinsam mit den Herstellerfirmen zu verhandeln. Das hat einen guten Grund, den wiederum Epidemiologen schnell liefern können: In einem gemeinsamen Markt wie dem der Europäischen Union, also einem vernetzten System von 450 Millionen Menschen, sollte das Ziel der Herdenimmunität für alle betrachtet werden: In Europa ist die Pandemie erst wirklich vorbei, wenn 70 Prozent der Europäer immun sind gegen das neuartige Coronavirus. Wenn auch nur eine Region hinterherhinkt, wird es immer wieder Brutstätten für das Virus geben, die alle bedrohen.

Der stellvertretende Leiter des Jacques Delors Instituts Berlin, Lucas Guttenberg, entgegnet den Kritikern dieser EU-Impfstrategie, dass Brüssel-Bashing bekanntlich nichts Neues sei, „aber wenn man anfängt, ‚Brüssel’ Tote in die Schuhe zu schieben, macht man damit Vertrauen in der Bevölkerung in die EU kaputt, das man nie wieder zurückbekommt“. Möglicherweise hätte Europa ein paar Tage schneller und mehr des ersten zugelassenen Impfstoffs bekommen können: den des Mainzer Biotech-Unternehmens Biontech, gemeinsam produziert mit dem US-Pharmariesen Pfizer. Dann nämlich, wenn unbegrenzt Geld zur Verfügung gestellt worden wäre für alle Firmen, die vergangenes Jahr begannen, Impfstoffe gegen Covid-19 zu entwickeln. Das sind 16 insgesamt – auf die Gefahr hin, dass am Ende keiner wirkt. Wer hätte dann wohl die Frage gestellt, dass „Europa“ Geld zum Fenster hinauswirft? Möglicherweise wäre so das Nadelöhr der zu geringen Produktionskapazitäten etwas früher geweitet worden. Kapazitäten, die Biontech jetzt in einer Fabrik in Marburg aufbaut, die das Unternehmen neu hinzukaufen konnte. Doch: Dieser Impfstoff ist kein leicht in Masse herzustellendes Aspirin. Es ist komplex.

Wenn es gelingt, die Maschinen bis Februar in Marburg zum Laufen zu bekommen, wird diese Debatte sehr schnell zum Erliegen kommen, und die entscheidende Frage wird bleiben: Sind weiterhin drei Viertel der Menschen in Deutschland, die sich jetzt in Umfragen dazu bekannten, bereit, sich impfen zu lassen? Das braucht Vertrauen: in den Impfstoff, die Politik und die Medien, die das alles erklären sollten.

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