Vor 80 Jahren begannen die systematischen Deportationen deutscher Jüdinnen und Juden ins besetzte Osteuropa
Vor 80 Jahren begannen die systematischen Deportationen deutscher Jüdinnen und Juden ins besetzte Osteuropa
„Hunderte von Leichen bedeckten den Boden … Überall war Blut, und auf den Öfen und Tischen stand noch das Essen. Alle Räume waren in einem vollständigen Durcheinander. Es war nicht eine lebende Seele zu finden.“ So beschreibt der im November 1941 aus Hamburg nach Minsk deportierte Heinz Rosenberg seine Ankunft im besetzten Weißrussland.
Vor genau 80 Jahren begannen nach Jahren der Ausgrenzung und Entrechtung, nach forcierter Emigration und ersten Abschiebungen, die systematischen Deportationen deutschsprachiger Jüdinnen und Juden in das besetzte Polen, Weißrussland und das Baltikum. Von Mitte Oktober bis Anfang November 1941 verschleppten die Nationalsozialisten etwa 20 000 Juden in das Ghetto in Litzmannstadt, wie die deutschen Besatzer Lodz seit dem Frühjahr 1940 nannten. Die lokalen Behörden protestierten gegen weitere Einweisungen in das überfüllte Ghetto. Die nächsten Transporte gingen weiter nach Osten. Zwischen dem 8. November 1941 und dem 6. Februar 1942 deportierten die deutschen Behörden in 32 Transporten jeweils ungefähr 1000 Menschen nach Riga und Minsk im sogenannten Reichskommissariat Ostland. Im November 1941 gingen außerdem fünf Transporte nach Kaunas, wo die Deportierten unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Bis Kriegsende rollten die Züge aus dem Deutschen Reich in der Folge in das besetzte Osteuropa, besonders viele fuhren in das Ghetto Theresienstadt sowie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.
In Riga und Minsk schufen die deutschen Verantwortlichen auf entsetzliche Weise Platz für die Deportierten, indem sie Teile der lokalen jüdischen Bevölkerung ermordeten. In Riga erschossen deutsche und lokale Einsatzkräfte am 30. November und am 8./9. Dezember 1941 laut deutschen Berichten 27 800 Menschen, in Minsk wurden am 7. November 1941 etwa 7000 und am 20. November 1941 noch einmal 5000 ermordet.
Mitunter zeitgleich mit den Massenerschießungen erhielten im Deutschen Reich die ersten jüdischen Deutschen die Befehle, sich für ihre Deportation an vorgegebenen Sammelstellen einzufinden. Ihr Vermögen fiel an das Reich, sie mussten eine genaue Übersicht über ihren Besitz einreichen und den Schlüssel zu ihrer Wohnung abgeben. Mit der Deportation, offiziell „Evakuierung“ genannt, wurden sie, die sich doch in vielen Fällen zuallererst als Deutsche fühlten, staatenlos. Sie durften neben Handgepäck einen bis zu 50 Kilogramm schweren Koffer mitnehmen und wussten oft nur sehr vage, dass sie „nach Osten“ gebracht werden sollten. Manche berichteten über Gerüchte oder kannten den Namen des Zielorts.
Die Ankunft in Riga oder Minsk nach mehrtägiger Fahrt war ein Schock. So sehr die Jüdinnen und Juden aus ihrer Heimat bereits Ausgrenzung und Willkür kannten, dies übertraf das bisher Erlebte. Polizeikräfte trieben die verstörten Menschen unter Schlägen aus den Waggons. Gerhard Hoffmann aus Hamburg beschreibt seine Ankunft in Minsk: „Links und rechts des Zuges standen in dichter Kette SS-Posten. Der Zug hielt und wir wurden sofort mit Peitschen aus den Waggons gejagt. Die ersten Schüsse fielen, das war unser Empfang. Wir sahen die ersten Toten.“ Die erschöpften Menschen mussten jeweils einige Kilometer zu Fuß in das Lager Jungfernhof bei Riga beziehungsweise in die jeweiligen Ghettos marschieren. Der aus Berlin nach Minsk deportierte Berthold Rudner notiert in sein Tagebuch: „Die Quartiere erwiesen sich als elende Holzhäuser, geplündert und demoliert, die sich zudem in einem unbeschreiblichen Zustand befanden, den sich ein Mitteleuropäer nicht vorzustellen vermag.“
Sie begannen, ihre jeweilige neue Bleibe, in der die Spuren der eben an der einheimischen Bevölkerung verübten Massaker noch deutlich zu sehen waren, aufzuräumen und sie sich so gut wie möglich herzurichten. Erna Valk erinnert sich an die erste Phase ihres Lebens in Riga: „Ich war sehr unglücklich, und trotzdem musste ich wie die anderen daran gehen, die kleine Stube aufzuräumen, welche für 3 Familien ausreichen musste.“
Die Lebensbedingungen waren furchtbar, viele erkrankten, durch den ständigen Mangel entstanden Konflikte. Noch einmal Berthold Rudner in Minsk: „Drangsalierungen setzten ein, und die Mitbewohner sanken in der Not von Stufe zu Stufe. Menschliches und tierisches Ungeziefer (Ratten und Wanzen) machten zuweilen das Leben unerträglich. Badegelegenheit gab’s nicht. Sich gründlich zu reinigen, war nur beschränkt möglich.“ Seine Freundin Martha Crohn starb bereits im Januar 1942 an Typhus. Nicht nur sie – Rudner notiert am 13. Januar 1942: „Der Tod geht um! Im Lager. Die Alten und Kranken gehen ein. Es gibt auch nur noch Massengräber. Alle paar Tage werden an die 20 Toten begraben! – Es ist ein schauerlicher Zustand.“
Wer überleben wollte, musste die offiziellen Lebensmittelrationen durch Tauschhandel aufbessern und die Nahrungsmittel abends bei der Rückkehr von der Arbeitsstelle ins Ghetto schmuggeln – im Falle der Entdeckung drohte der Tod. Überlebende aus Riga berichten, dass es immer wieder passierte, dass sie abends zurückkehrten und am Galgen eben ermordete Männer hingen. Doch war der lebensgefährliche Tauschhandel alternativlos, wie Käte Frieß im Sommer 1945 schrieb: „Wir mussten tauschen, denn sonst säße ich hier heute nicht vor der Schreibmaschine. Das war Lebensbedingung.“
Die Menschen versuchten, den Bedingungen etwas entgegenzusetzen: In einem gewissen Maße entstand ein Alltags- und ein kulturelles Leben. Für Kinder wurde Schulunterricht organisiert, Musiker und Künstler boten verschiedene Darbietungen an, in Riga gab es eine Zeit lang sogar Tanzunterricht. Einigen war ihre Religion besonders wichtig, sie begingen etwa die jüdischen Feiertage, so gut es unter den neuen Bedingungen möglich war.
In mehreren „Aktionen“ ließen die deutschen Verantwortlichen im Laufe des Jahres 1942 und spätestens 1943 die „Arbeitsunfähigen“ auch unter den Deportierten ermorden. Diese „Aktionen“ bedeuteten tiefe Zäsuren in der Wahrnehmung der deutschen Jüdinnen und Juden: Sie begannen zu verstehen, dass das entsetzliche Schicksal der lettischen beziehungsweise weißrussischen Juden kurz vor ihrer Ankunft keine Ausnahme gewesen war. Sie verstanden, dass sie nicht verschont würden, weil sie sich, wie die Täter, als Deutsche verstanden, aus derselben Kultur kamen, dieselbe Sprache sprachen.
Die Überlebenden der jeweiligen „Aktionen“ zogen täglich in Kolonnen zu ihren Arbeitsstätten, und dies bis zur Auflösung der Ghettos im Oktober 1943 in Minsk und November 1943 in Riga. Sicher waren jedoch auch die Arbeitskräfte nie. Immer wieder fanden Selektionen statt, wurden Familien auseinandergerissen, Menschen ermordet.
Für diejenigen, die die Ghetto-Auflösungen überstanden, begann häufig eine Odyssee durch verschiedene Lager. Gerhard Hoffmann, der bereits seine Eltern und seinen Bruder verloren hatte, beschreibt diese Phase: „Nun folgte eine Zeit, die noch weit schlimmer war als unser Ghettoleben. Wir wurden von einem Lager ins andere gestoßen. Arbeitslager – KZ. KZ – Arbeitslager. Hunger, Krankheit, Seuchen, Schläge, Erschießungen, Vergasungen und andere Brutalitäten.“ Er war unter anderem in Majdanek, Budzyn und Flossenbürg, wurde auf einen der berüchtigten Todesmärsche geschickt, bevor er in Oberbayern von den Amerikanern befreit wurde. Er schreibt: „Ich war verhungert, verkommen, verlaust und bin nur noch auf allen Vieren gekrochen.“
Von den mehr als 31 000 ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden überlebten knapp 1100 den Holocaust. Von rund 7000 in das Ghetto Minsk deportierten deutschen Juden haben knapp 50 überlebt. Für die meisten Deportierten gab es keinen Ausweg, und die Vorahnung, die Hilde Sherman nach einer der „Aktionen“ in Riga benannte, sollte sich als wahr erweisen: „Auch den Gutgläubigsten ging allmählich auf, dass wir Tote auf Abruf waren.“