Europas Werte werden verbuddelt

Ja, die Regierungschefs haben sich auf ein Finanzpaket geeinigt. Aber nur noch Geld hält Europa zusammen

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SHUTTERSTOCK.DE/OLEG ELKOV
Europäische Einigung: Gelder verteilt, Werte vergraben?
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Europäische Einigung: Gelder verteilt, Werte vergraben?

Europas Werte werden verbuddelt

Ja, die Regierungschefs haben sich auf ein Finanzpaket geeinigt. Aber nur noch Geld hält Europa zusammen

Die Erleichterung danach war offensichtlich, und auch, was folgte, kennt man schon: Nach dem Marathon-Gipfel ergingen sich Europas Regierungschefs in Selbstlob. Handlungsfähigkeit hätten sie bewiesen und gezeigt, dass Europa sich einigen kann.

Und wie sie das gezeigt haben! Quälende Debatten, die vor allem vorführten, dass es dem handelnden Personal der europäischen Politik an nahezu allem fehlt, was Europa von ihm verlangen könnte: einem gemeinsamen Geist, einer gemeinsamen Idee von Europa, und – vor allem – gegenseitigem Vertrauen.

Gelöst haben die Regierungschefs für den Moment vor allem ihr eigenes Problem: Sie haben ihre völlige Zerstrittenheit einigermaßen übertüncht. Man mag diesen Gipfel historisch nennen, in die Geschichte wird er vermutlich eingehen als ein Gipfel der verpassten Chancen. Er hat ein Europa hinterlassen, das nur noch durch einen einzigen Kitt zusammengehalten wird: Geld.

Davon gibt es jetzt viel. Die Pandemie liefert dafür die Begründung, aber die verabredeten Ausgaben haben nicht viel mit ihr zu tun: 70 Prozent der Wiederaufbaumittel sollen in den Jahren 2021 und 2022 ausgegeben werden, der Verteilungsschlüssel richtet sich nach der Wirtschaftslage in den Jahren 2015 bis 2019, also vor der Pandemie. Länder wie Italien werden dafür belohnt, dass sie jahrelang nichts zur Stärkung ihrer Wirtschaft unternommen haben. Länder wie Ungarn, die kaum von der Pandemie betroffen sind, dürfen überproportional hohe Beträge erwarten. Es ist absurd. Erst im dritten Jahr, 2023, sollen die durch Corona bewirkten Effekte bei der Verteilung eine Rolle spielen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft vermutlich auch so schon längst wieder auf Wachstumskurs sein wird, was viele Ökonomen für sinnlos, weil prozyklisch halten.

Dass es nur um Summen ging, nicht etwa um ihre sinnvolle Verwendung, zeigt sich auch daran, dass äußerst vage ist, wofür dieses Geld ausgegeben werden soll. Die Mitgliedstaaten sollen „Aufbau- und Resilienzpläne“ aufstellen, die EU-Kommission soll überprüfen, ob sie sich daran halten. Allzu viel Verlass ist darauf nicht: Systematisches Wegsehen ist für die Kommission in solchen Fragen seit Jahren ständige Übung (man denke nur an die Überwachung der Haushaltsdefizite). Der zuständige Kommissar, der Italiener Paolo Gentiloni, hat sich auch stets dagegen gewehrt, Zahlungen an irgendwelche Auflagen zu knüpfen.

Natürlich, wer Geld, zumal in solchen Summen, in eine Volkswirtschaft wirft, wird immer einen Wachstumseffekt erzielen. Offen bleibt, ob der nachhaltig ist. So lückenhaft, wie die Programme angelegt sind, ist die Sorge nachvollziehbar, dass sich Länder wie Italien schon in wenigen Jahren wieder melden und nach Solidarität rufen werden.

Viel ist auf der Strecke geblieben, um diesen Kompromiss zu ermöglichen. Das im EU-Vertrag festgelegte Verbot, Schulden zu machen, wird durchbrochen. Nur dieses eine Mal, versprechen die Regierungschefs, aber auch das darf man getrost vergessen. Seit diesem Gipfel heiligt in der EU der Zweck die Mittel. Der Präzedenzfall ist geschaffen, dieses Prinzip wird überdauern.

Auf der Strecke blieben ausgerechnet Ausgaben für Europas Zukunft, für Forschung, Klimaschutz und Ähnliches. Während die Welt sich um Zukunftstechnologien kümmert, verbuddelt Europa auch künftig seine Ressourcen vor allem in der Erde.

Und auf der Strecke geblieben sind Europas Werte, die eigentlich den Kitt bilden müssten, der Europa zusammenhält. Der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus sieht zwar vor, dass Maßnahmen gegen Staaten, die diese Werte einschränken, vom (Minister-)Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können, was ein Fortschritt wäre. Aber dann steht da eben auch: „Der Europäische Rat wird sich rasch mit der Angelegenheit befassen.“ Der Europäische Rat – das heißt: Es muss einstimmig sein. Ohnehin behält Viktor Orbán eine Menge Hebel in der Hand, um jede Sanktion zu verhindern: Die neuen Steuern etwa, mit denen Europa seine Schulden in den kommenden Jahrzehnten zurückzahlen soll, können ebenfalls nur einstimmig beschlossen werden. Das gibt jedem Staat ein Vetorecht.

Mit dem Segen der Kanzlerin werden Deutschlands Steuerzahler also weiter finanzieren, dass Polen und Ungarn den Rechtsstaat und die Demokratie Zug um Zug abschaffen. Sie werden weiter finanzieren, dass in der persönlichen Umgebung Orbáns erstaunlich viele Leute erstaunlich reich werden, sie werden weiter die sozialen Wohltaten finanzieren, mit denen Polens reaktionäre Regierung ihre Wähler bei der Stange halten will.

Die Parlamente, die jetzt gefragt werden, werden daran nicht viel ändern. Das Europäische Parlament hat zwar Nachbesserungen verlangt, und die wird es – in kleinem Umfang – auch bekommen. Aber es hat so viele Mitglieder aus Ländern, die vor allem am Geld interessiert sind, dass es am Ende zustimmen wird.

Auch der Bundestag wird folgen. Dass die Kanzlerin ausgerechnet Deutschlands treueste Bundesgenossen im Stich gelassen hat, jene Länder, die mit Deutschland jahrelang für eine halbwegs solide Finanz- und Haushaltspolitik gekämpft haben – ihre Koalition wird das nicht kritisieren. Auch nicht, dass Angela Merkel anders als alle ihre Vorgänger die kleineren Länder kaum noch einbezieht oder gar auf sie Rücksicht nimmt. Die Quittung dafür haben sie (und Emmanuel Macron) bekommen: Die deutsch-französische Führung der EU wird angefochten wie noch nie.

Im Bundestag gilt die Europapolitik nicht als Paradedisziplin. Aber die wenigen, die sich auskennen, werden sich vielleicht fragen, was möglich gewesen wäre, wenn die Kanzlerin nicht schon vor Beginn der Verhandlungen vor dem Druck der Südeuropäer eingeknickt wäre? Wenn sie erst am Ende eines langen, harten Verhandlungsprozesses mit Geben und Nehmen zu Zugeständnissen bereit gewesen wäre, wie sie sie jetzt gemacht hat? Einmal in sieben Jahren, wenn über den Haushalt der nächsten Finanzperiode verhandelt wird, bekommt Deutschland als größter Zahler diesen einzigartigen Hebel in die Hand. Was hätte es – nicht für sich, aber für Europa – heraushandeln können! Und wenn es nur gereicht hätte, um Europas grundlegenden Werten mithilfe des Geldes wieder Gewicht zu verschaffen. Deutschland hat Europa diese Chance nicht gegönnt. Deshalb ist Geld jetzt der einzige Kitt, der Europa zusammenhält. Sehr stabil ist das nicht, und man kann sich auch fragen, ob so ein Europa so viel Geld wert ist.

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