Fragen, was ist

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Fragen, was ist

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Der Spiegel wird dieses Jahr 75 Jahre alt. Das hat die Redaktion seine Leserschaft noch vor Jahresende wissen lassen und der Geschichte des Magazins einen eigenen Teil gewidmet. Durchaus zu Recht. Ein Dreivierteljahrhundert – das ist eine lange Zeit, über die man gemeinhin gar nicht nachdenkt, wenn man den Spiegel liest, war und ist er doch eine stete Konstante im wöchentlichen Zeitungsreigen. Und das mit Enthüllungen und Reportagen, die vor allem dann besonders interessant sind, wenn sie nicht in Schwarzweiß daherkommen, sondern die Grau-Schattierungen zum Vorschein bringen, die die Realität immer bereithält. Und wenn sie nicht erfunden sind.

Zur Feier des Jubiläums hielt die Spiegel-Redaktion nicht nur ein paar eindrucksvolle Statistiken bereit, wie etwa die von den mehr als 3900 Ausgaben und 400 000 Artikeln, die bisher erschienen sind. Sie brachte dem Leser auch jene Zitate des Gründers nahe, die seither die Arbeit seiner Journalisten und Journalistinnen prägen. „Nichts interessiert den Menschen so sehr wie der Mensch“, lautet einer. Gekauft.

Häufiger zitiert wird allerdings jener Slogan, über den sich die gesamte Spiegel-Redaktion definiert: „Sagen, was ist.“ Auch das hat Augstein gesagt. Es ist wohl sein bekanntester Ausspruch. Im Atrium des Hamburger Verlagshauses ist er in metallische Buchstaben gegossen und am Mauerwerk montiert.

Nun hat es dieses „Sagen, was ist“ durchaus in sich. Denn mit der fortwährenden Berufung auf diese drei Worte formuliert das Magazin nicht nur seinen Anspruch, sondern auch seine Haltung: Der Spiegel erklärt den Lesern die Welt, und das vor allem in ihren Missständen. Und er gibt zu wissen vor, wie und was wirklich ist.

Nur: Sagen, was ist – das tun andere längst auch, inzwischen sogar ganze Heerscharen im Internet. Sie erklären und deuten die Weltzusammenhänge auf ihre Weise. Wissenschaftler genauso wie Querdenker. Wahrheitssucher und Wahrheitsverdreher. Alle mit genau demselben Anspruch, den das Nachrichtenmagazin für sich reklamiert.

„Sagen, was ist“ aber ist – ehrlich gesagt – unmöglich. Es ist in seinem Anspruch schon fast ein Paradoxon, denn dieses Sagen ist und bleibt notwendigerweise eine höchst subjektive Angelegenheit. Schon die Auswahl der Themen – gerade auch im Spiegel – „spiegelt“ persönliche Einschätzungen wider, die dann bei der Bearbeitung der einzelnen Sujets noch viel tiefgreifender zur Wirkung kommen. „Ganz im Sinne Augsteins machen wir den Spiegel so, wie wir ihn gerne lesen würden“, schrieb der Chefredakteur unlängst. „Eben!“, würde man hierzu sagen und zu bedenken geben, dass die „Macher“ des Nachrichtenmagazins dem, was wirklich ist, nur im Idealfall näherkommen.

Nach 75 Jahren, in denen sich die Welt verändert hat, wird man behaupten dürfen, dass dieses „Sagen, was ist“ für ein journalistisches Medium seine Stimmigkeit verloren hat – in Anspruch und Umsetzung. Vielleicht wäre es an der Zeit, diese drei Worte durch ein „Fragen, was ist“ zu ersetzen. Denn weniger Anspruch wäre mehr – gerade auch für die Wahrheitsfindung. Zweifelsohne ist der Spiegel Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Doch hat er die Wahrheit nicht gepachtet. Auch, wenn er häufig genug so tut.

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