Frieden in unserer Zeit

Russland stellt sich auf einen langen Krieg gegen den Westen ein – da hilft Appeasement wenig. Eine Replik auf Harald Kujat

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SHUTTERSTOCK.DE/RIZIK
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Frieden in unserer Zeit

Russland stellt sich auf einen langen Krieg gegen den Westen ein – da hilft Appeasement wenig. Eine Replik auf Harald Kujat

Russland will offensichtlich die Ukraine zerstören. Man werde dem Westen „nie wieder vertrauen“, tönte zuletzt der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow im Interview mit dem US-Sender MSNBC. Der Kreml stelle sich auf einen langen Konflikt ein. Der Putin-Sprecher sagt das in völliger Umkehr der tatsächlichen Vorgänge: Es war Russland, das die Ukraine angegriffen hat. Seit der vorläufigen Niederlage der russischen Truppen nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew nach der massiven Kriegsausweitung durch den Kreml am 24. Februar dreht sich das Blatt militärisch seit einigen Wochen wieder. Im Osten der Ukraine macht die Kreml-Armee langsame, aber doch stete Fortschritte. Es ist übrigens das Gebiet, in dem die deutsche Wehrmacht zentrale Schlachten des Zweiten Weltkrieges teils gewann, teils verlor.

In diesem Gebiet zeigt sich nun russischer Vernichtungswillen der Putin-Armee: mit Artillerie und Panzern im meist flachen Gelände der Oblasten Luhansk und Donezk. Kiew rechnet mit 100 bis 200 toten Soldatinnen und Soldaten jeden Tag. Ohne schwere Waffen, ohne moderne Artilleriesysteme haben die ukrainischen Verteidiger in ihren Schützengräben dieser Übermacht an Material, das meiste aus der Sowjetzeit, im Moment nur wenig entgegenzusetzen.

Nach dem Völkerrecht aber ist die Sachlage klar: Russland hat die Ukraine angegriffen. Nach Artikel 51 der UN-Charta hat die demokratisch gewählte Regierung in Kiew das Recht, sich mit Gewalt selbst zu verteidigen. Mehr noch: Es lässt sich daraus auch der Tatbestand unterlassener Hilfeleistung der friedlichen Völker­gemeinschaft ablesen – wenn dem Angegriffenen nicht geholfen wird.

Da nimmt sich die in Teilen der deutschen Sozialdemokratie politisch gelebte Zurückhaltung bei der Lieferung von Waffen an die Ukraine geradezu absurd aus. Mehr noch: Jenen, die auf die Einhaltung der UN-Charta pochen, wird „teils maßlose Kritik“ am deutschen Bundeskanzler vorgeworfen. Zuletzt auch an dieser Stelle im Hauptstadtbrief. Der frühere Bundeswehrgeneral Harald Kujat hat in einer militärpolitischen Analyse und einem Kommentar diese Lesart wieder anklingen lassen. Die UN-Charta hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nach dem deutschen Vernichtungsfeldzug durch Europa und der teils industriellen Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden eine neue Friedensordnung begründet. Wenn den Verteidigern dieser UN-Charta maßlose Kritik vorgeworfen wird, wäre es immerhin redlich, wenn die Appeasement-Fraktion in Deutschland zugäbe, dass sie dieses Völkerrecht in Zweifel zieht. Es drängt sich der Verdacht auf, dass das zentrale Mittel russischer Politik sich dort wirkmächtig entfaltet: Angst. Angst war auch das wichtigste Mittel geheimdienstlicher Tätigkeit der früheren Sowjetunion, die vom ehemaligen Dresdner KGB-Agenten Wladimir Putin heute so sehr befeuert wird wie damals.

Doch wer die Angst überwindet, kommt sehr schnell zu einer anderen Analyse, wie Russlands Krieg eingedämmt werden kann, bevor Moskau auch noch erst Litauen und dann die beiden anderen Staaten des Baltikums angreift, womöglich die Republik Moldau einnimmt. Das fängt mit der Formulierung eines politischen Ziels an, das am Ende des Krieges in der Ukraine stehen sollte: Und auch dieses Ziel sollte gerade in Deutschland mit Rückgriff auf die UN-Charta formuliert werden. Der Angriff auf die territoriale Integrität der Ukraine hat bekanntlich 2014 begonnen. Konsequent zu Ende gedacht kann das nur bedeuten, dass die Annexion der Krim und die völkerrechtlich illegale Schaffung der Terrorregime in Donezk und Luhansk rückgängig zu machen sind. Russland hat moralisch jeden Anspruch auf die Krim mit der Eskalation nach dem 24. Februar verspielt. Es ist kaum vorstellbar, dass die russischen Streitkräfte nach dem Krieg in der Ukraine auf der Krim noch einen maritimen Militärstützpunkt unterhalten könnten. Wohlgemerkt: Es geht hier um ein politisches Ziel, das im besten Falle durch politische Verhandlungen erreicht wird, wenn die Waffen schweigen.

Doch zu ernsten Verhandlungen wird es erst kommen, wenn der russische Vormarsch gestoppt und die Verteidiger in die Lage versetzt werden, überhaupt eine Chance zu haben, ihr besetztes Territorium zurückzuerlangen. Nachdem die russischen Luftstreitkräfte mehr und mehr ukrainische Waffenfabriken zerstört haben, hängt die Ukraine auch bei der Munition am Nachschubtropf aus dem Westen. Das Land ist also auf die militärische Hilfeleistung angewiesen, die sich aus Artikel 51 der UN-Charta ergibt. Dass sich mit der konsequenten Eindämmung Russlands eine geopolitische Verschiebung ergibt, liegt auf der Hand.

Die Enteignung von Russlands Auslandsvermögen, das zivile Vorgehen gegen russische Strukturen außerhalb Russlands, die Enteignung der Oligarchen – und schließlich die Bewaffnung der Ukraine erst zum Zwecke der Wiedererlangung ihrer territorialen Souveränität und dann zur langfristigen Sicherung ihres Landes gegen weitere Angriffe und außerdem die konsequente Verfolgung von Kriegsverbrechen – ergäben sich aus der hier zuvor genannten Zielsetzung. Es ist nichts anderes als die Konsequenz aus dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.

Neben dem Rückgriff auf das Völkerrecht gibt es eine zeithistorisch-moralische Verantwortung demokratischer Parteien in Deutschland. Zeithistorisch ist unstrittig, dass die zentrale Fragestellung lautet: Wer hat die Gewalt entfesselt? Darauf zielt auch die Argumentation des US-Historikers Timothy Snyder, der Autor des Buches „Bloodlands“, das eindrücklich den Vernichtungswillen der Wehrmacht in der Ukraine zeigt, nicht anders, als es schon in vielen Untersuchungen der deutschen Zeithistorie beschrieben worden ist, nicht zuletzt in der Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung in den 1990er-Jahren. Im demokratischen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mündete diese Erkenntnis in dem Satz „Nie wieder!“. Es mutet eigenartig an, wenn ein deutscher Ex-Militär aus der demokratischen Bundeswehr diese zeithistorische Sicht auf die Dinge nicht verinnerlicht hat.

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