Garantiebestimmungen

Könnten die Vereinten Nationen eine Friedensvereinbarung zwischen Russland und der Ukraine sichern?

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PICTURE ALLIANCE/ZUMAPRESS.COM | UKRAINE PRESIDENCY/UKRAINE PRESI
Vorfühlen: UN-Generalsekretär Antonio Guterres und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche in Kiew.
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Vorfühlen: UN-Generalsekretär Antonio Guterres und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vergangene Woche in Kiew.

Garantiebestimmungen

Könnten die Vereinten Nationen eine Friedensvereinbarung zwischen Russland und der Ukraine sichern?

Der menschenverachtende, zutiefst verstörende Krieg in der Ukraine führt uns in erschreckender Weise vor Augen, wie zerbrechlich der Friede ist. Seit 1945 haben mehr als 100 Kriege in der Welt, auch mit europäischer Beteiligung, stattgefunden. Dies hat Europa hingenommen. Nun ist der Krieg mitten in Europa angekommen und wir sind verstört.

Das 20. Jahrhundert als das blutigste in der Menschheitsgeschichte war wie kein anderes ideologisch begründet. Die beiden verheerenden Weltkriege schienen zunächst eine Chance für den Frieden. Die Gründung der UN mit dem alleinigen Gewaltmonopol war ein hoffnungsvoller Ansatz. Europa, jahrhundertelang in Bruderkriege verstrickt, schaffte in historisch einzigartiger Weise den Krieg als Mittel der Auseinandersetzung zwischen den europäischen Völkern ab. Selbst wenn dies als einzige Leistung des europäischen Einigungswerkes bliebe, hätten sich die Anstrengungen gelohnt. Dies trifft aber nur auf die Europäische Union zu. Man darf nicht vergessen, dass in die etwa 100 weltweiten kriegerischen Auseinandersetzungen nach 1945 nicht selten auch europäische Mächte verstrickt waren.

Kann die EU einen Beitrag zur Entspannung in verstörenden Zeiten leisten? Grundvoraussetzung hierfür ist, dass die Nationalstaaten es aufgeben, ihre nationalen, partikularen Interessen über das Gemeinschaftsinteresse zu setzen. Der ewige Glaube an die nationale Souveränität verhindert eine notwendige neue Außen- und Sicherheitspolitik.

Drei Elemente bestimmen aus meiner Sicht maßgeblich die mit der Erstarkung Russlands veränderte weltpolitische Lage. Diese Elemente hängen eng mit der Erkenntnis Carl von Clausewitz’ (1780-1831) zusammen, „dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, eine Durchführung desselben mit anderen Mitteln“. Lenin brachte dann diesen Gedanken auf die einprägsame Formel: „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Diese Haltung, wie sie sich in Syrien und der Ukraine zeigt, ist als Grundlage einer neuen Doktrin absolut inakzeptabel.

Erstens muss den Machtansprüchen der Großmächte eine europäische Vernunft entgegengesetzt werden. Diese materialisiert sich jedoch nur dann, wenn Europa in einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu einer stärkeren Unabhängigkeit findet. Da dies mit 27 Nationalstaaten eher unwahrscheinlich ist, könnte eine Alternative eine enge Koordination der Außenpolitik Frankreichs und Deutschlands sein, vielleicht sogar eine Verschmelzung als Keimzelle eines neuen europäischen Selbstbewusstseins.

Zweitens muss eine so eng wie möglich koordinierte europäische Außen- und Sicherheitspolitik den Schulterschluss mit der UNO suchen. Die UNO besitzt auch nach der eigenmächtigen Verletzung ihrer Charta durch die USA, durch Großbritannien, durch Russland das alleinige Gewaltmonopol nach noch geltendem Völkerrecht. Solange die Mehrheit der Weltgemeinschaft die UNO als das Weltforum für internationale Prävention, für Konfliktschlichtung und Friedenserhaltung stützt, so lange haben es selbst die USA, Russland und China schwer, diese Institution zu beschädigen. Aber die UNO braucht eine grundlegende Reform, insbesondere im Sicherheitsrat die Abschaffung des Vetorechts der fünf Mächte, ein Relikt des Zweiten Weltkrieges.

Das dritte Element besteht in der Stärkung der atlantischen Gemeinschaft. Die USA brauchen Europa, und Europa braucht die USA. Gemeinsam müssen die USA mit Europa ihr Verhältnis zu Russland – nach einer dem Völkerrecht entsprechenden Lösung in der Ukraine – neu ordnen, trotz allem, auf der Basis gegenseitigen Respekts vor dem Völkerrecht. Nicht die Macht bestimmt Inhalt und Wirkung des Rechts, sondern umgekehrt das Recht zügelt die Macht.

Der Krieg in der Ukraine kann sofort beendet werden, wenn Irrsinn der Vernunft weicht. Die Vernunft, die eigentlich seit der Aufklärung zivilisiertes menschliches Handeln bestimmen sollte, ist Voraussetzung dafür, dass die hier vorgeschlagenen Elemente zu einem Frieden führen können.

Die Maxime politischen Handelns darf nicht länger von Hass, Drohung und Gewalt bestimmt werden, die zur paranoiden psychologischen Erstarrung führen, sondern Vernunft muss die Handlungsorientierung sein. Politik muss ihr politisches Handeln an einem Grundgedanken Richelieus (1585-1642) orientieren: Politik als Kunst zu verstehen, das Notwendige möglich zu machen. Vorrangig ist das Notwendige: sofort den menschenverachtenden Krieg zu beenden.

Ich gehe davon aus, dass Wladimir Putin sein Kriegsziel, Donezk und Luhansk Russland einzugliedern, nicht aufgeben wird. Ob dies das Endziel seines Krieges ist, kann nur dadurch herausgefunden werden, ob er einem Vorschlag wie dem folgenden zustimmt:

Die Ukraine, die sich in existentieller Not befindet, hat nur zwei Möglichkeiten. Entweder den Krieg, auch mit Hilfe schwerer Waffen aus dem Westen, fortzusetzen, unter erheblichem Verlust von Menschenleben. Zu gewinnen ist der Krieg wohl kaum, trotz bewundernswert tapferer Gegenwehr der Ukrainer.

Oder die beiden Regionen ihres Staatsgebietes einzutauschen gegen eine international garantierte souveräne, neutrale Ukraine – ohne Donezk und Luhansk.

Den Krieg fortzuführen, bedeutet unsägliches weiteres menschlichen Leid, bedeutet die Fortsetzung der Flüchtlingsströme gut ausgebildeter Ukrainerinnen und Ukrainer, bedeutet den Verlust von Hoffnung, die in den geflüchteten Kindern liegt (vorteilhaft für immer älter werdende Europäer), bedeutet den Verlust auf eine friedliche Zukunft in einem befreundeten Westen.

Wie immer der Krieg weitergeht, mit dem Risiko eines dritten Weltkrieges, enden wird er mit dem Verlust von Donezk und Luhansk für die Ukraine. Beide Regionen werden Russland eingegliedert, zumindest orientieren sie sich an Russland, wie schon seit Jahrhunderten.

Ich weiß, dass sofort der Vorwurf erhoben wird, ich würde die Aggression Russlands auch noch belohnen. Aber wenn nach vernünftigem Ermessen es unwahrscheinlich, ja, ausgeschlossen ist, das Ziel einer Wiederherstellung der vollständigen Integrität der Ukraine zu erreichen, dann ist es nur rational und menschlich, sofort den Krieg zu beenden.

Damit dies gelingen kann, bedarf es unabdingbar notwendiger Voraussetzungen:

1. Die Ukraine bietet Russland an, über eine neue Grenzziehung zwischen beiden Ländern zu verhandeln unter der Bedingung, dass Russland sofort alle Feindseligkeiten einstellt.

2. Sollte die Ukraine sich zu solch einem schwerwiegenden Verzicht der beiden Regionen entschließen können (eine Volksabstimmung nach einem Waffenstillstand ist unerlässlich), dann kann sie dies nur tun, wenn sie im Gegenzug internationale Garantien erhält.

3. Vor den Garantien müssen noch einige Voraussetzungen erfüllt sein, nämlich, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer, die eine neue Heimat in der zukünftigen Ukraine finden wollen, mit Hab und Gut (Entschädigung) ihre alte Heimat in Donezk und Luhansk verlassen können.

4. Weiterhin muss Russland im Vorhinein vertraglich sicherstellen, dass eine neutrale Ukraine natürlich Mitglied der Europäischen Union werden kann.

Die Erfüllung der Grundvoraussetzungen 3 und 4 durch Russland ist der Lackmustest dafür, ob Russland nicht weitere Eroberungsziele in Europa verfolgt.

5. Die Verhandlungen über die zukünftigen Grenzen zwischen Russland und der Ukraine mit dem Ziel eines friedlichen Miteinanders zwischen Russland und dem Westen werden unter der Schirmherrschaft der UNO geführt.

6. Der zentrale Punkt ist eine internationale Garantie für die Ukraine, dass niemals mehr ein Angriff auf ihre Souveränität erfolgen kann. Zu den Garantiemächten könnten Länder der EU, die USA und Russland unter der Schirmherrschaft der UNO gehören.

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