Editorial des Verlegers
Editorial des Verlegers
Liebe Leserinnen und Leser,
wieder einmal mussten wir in diesen Tagen verstörende Berichte von sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen zur Kenntnis nehmen, erschreckende Bilder sehen, auf denen öffentlichen Personen, ob Politikern, Virologen oder Journalisten, mit Inhaftierung oder Schlimmerem gedroht wurde. Darunter befand sich auch Rainald Becker, Chefredakteur der ARD, dessen Kommentar aus den Tagesthemen am 9. November wir in dieser Ausgabe des Hauptstadtbriefs am Sonntag aus gegebenem Anlass noch einmal veröffentlichen.
Der Text, den uns dann Andrea Löw vom Institut für Zeitgeschichte in München geschickt hat, löste in mir eine tiefe Beklemmung aus – das ist, wenn man sich mit den Lebens- und Leidensgeschichten tatsächlicher Opfer von Gewaltherrschaft und Diktatur befasst, die Löw dort auf knappem Raum noch einmal ausbreitet, kaum anders denkbar. Zugleich aber habe ich auch eine gewisse Beruhigung gespürt – darüber, dass es einer im besten Sinne zeitgeschichtlich gelehrten Autorin auf so eindrückliche Art möglich ist, in klaren Worten den Missbrauch historischer Symbole und Sätze als das zu entlarven, was er ist – eine erbärmliche Verhunzung.
Becker stellt in seinem Kommentar einige nüchterne Fragen: „Klar, in einer Demokratie haben auch Kinds- und Querköpfe das Recht für die merkwürdigsten Inhalte und Ansichten zu demonstrieren, aber muss das auch in pandemischen Zeiten erlaubt werden? Und warum nicht auf dem freien Feld, sondern in Innenstädten?“
Löw erzählt eindrucksvoll von Cecilie Landau, Victor Klemperer und Anne Frank – und sie untermauert Beckers Argument mit einer historischen Gegenüberstellung in Sachen Diktatur damals und der rechtsstaatlichen Wirklichkeit heute. Der Unterschied ist schon daran erkennbar, „dass all diese Menschen da draußen überhaupt zusammenkommen und ihre Meinung, egal, wie krude diese ist, sagen dürfen, ohne am nächsten Morgen in einer Gefängniszelle oder – je nach Vergleich – Lagerbaracke aufzuwachen.“
Nicht zu vergessen, die geschichtlichen Anleihen an das „Dritte Reich“ sind von den Demonstranten ausgegangen. Bei der historischen Einordnung handelt es sich nicht um moralischen Überschuss, sondern leider um eine gegenwärtige Notwendigkeit.
Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich bis zur nächsten Woche
Ihr Detlef Prinz