Gekränkte Überlegenheit

Warum die Mär vom Großen Austausch von alten und neuen Rechten so gern geglaubt wird

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PICTURE ALLIANCE/IKON IMAGES/MITCH BLUNT
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Gekränkte Überlegenheit

Warum die Mär vom Großen Austausch von alten und neuen Rechten so gern geglaubt wird

Die Rede vom „Großen Austausch“ unterstellt eine von liberalen Regierungen bewusst angestrebte Auswechslung der weißen (und christlichen) Mehrheit im globalen Norden durch nicht-weiße, überwiegend muslimische Einwandererfamilien aus dem globalen Süden. Das Mittel dazu sei eine durch die Öffnung der Grenzen mögliche Masseneinwanderung; die diesbezügliche Einlassung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, das sei zu schaffen, gilt Anhängern dieser Verschwörungstheorie als Beleg für das Vorliegen eines gezielten Plans. Völlig aus der Luft gegriffen, sollte man meinen. Doch das Unheimliche an diesem „Meme“, dessen rasante Diffusion in Frankreich, den USA und Deutschland ich hier skizzieren möchte, ist seine primäre Randständigkeit bei gleichzeitiger Mehrheitsfähigkeit. Es verwenden mordbereite „lone wolfs“ in der Nachfolge Anders Breiviks, dessen Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utoya 77 überwiegend junge Menschen zum Opfer fielen; seinem Skript folgten ein Dutzend weiterer Massaker, unter anderem an zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch, an der Synagoge von Halle und in einem Supermarkt in Buffalo/New York. Jedes Mal inszenierten sich die Massenmörder als verzweifelte Kämpfer gegen den „Großen Austausch“.

Darüber zeigten sich auch bekennende Rechtsorientierte und „Ethno-Nationalisten“ entsetzt, doch übersetzt man die Quintessenz der Taten der „einsamen Wölfe“ in eine Umfrage, dann stimmen in den Vereinigten Staaten fast zwei Drittel der Wähler Trumps (und über die Hälfte der Zuschauer von Fox News) der These zu, die weiße Mehrheit werde regierungsseitig planmäßig ausgetauscht und die Medien würden diesen Komplott decken. Fox-News-Anchorman Tucker Carlson hat hundertfach wiederholt, die Demokraten würden das „great replacement“ vorantreiben, um dank ihrer multikulturellen Basis Wahlen zu gewinnen. Auch in Frankreich äußerten sich 2021 über zwei Drittel der Befragten diesbezüglich besorgt. Der Mathematiker David Chavalarias hat in seinem jüngst erschienenen Buch „Toxic Data“ anschaulich gemacht, wie solche Memes vor allem in den sozialen Medien zirkulieren und sich nach 2015 geradezu explosionsartig ausgebreitet haben. In diesem Milieu ist keinerlei Gegenmeinung zu vernehmen, die Anhänger des „grand remplacement“, die etwa unter den Gelbwesten stark verbreitet sind, hören und sehen nur sich selbst. In Deutschland fehlen entsprechende Daten, doch in den sozialen Medien, darunter auf der AfD nahestehenden Seiten, und über identitäre Verlagspublikationen hat sich das Meme auch hierzulande stark verbreitet.

Adressat ist dabei das bürgerlich-saturierte Publikum, das in gutgefüllten Vortragssälen Thilo Sarrazin bei seinen im Kern identischen Deutungen demografischer Daten lauscht: Deutschland schafft sich ab. Nach der Pandemie ist die Bereitschaft, sich den konfusen Mix aus Medienschelte, Politiker-Bashing und freihändiger Bevölkerungslehre anzuhören, kaum geschwunden. Sarrazin, bis vor kurzem SPD-Mitglied, darf als stiller Gründer der AfD bezeichnet werden, deren „bürgerliche“ Exponenten es nicht Björn Höcke und Andreas Kalbitz überlassen, gegen „Überfremdung“ anzureden. Die Attraktivität der Rede vom „Großen Austausch“, die der französische Romancier Renaud Camus, ein ebenfalls weißhaarig-honoriger Autor, zu Bestsellern machte, liegt in ihrer spontanen Scheinevidenz, wenn nämlich ältere Menschen angestammte Wohnviertel verlassen und ihre Nachbarschaften vor lauter People of Color nicht mehr wiedererkennen (wollen). Wir seien „Fremde im eigenen Land“, kleidete vor nun schon drei Jahrzehnten Franz Schönhuber diese optische Mutation in eine griffige Formel – „on n’est plus chez soi“, raunt man auch in Paris, Lille oder Nizza beim Verlassen des Restaurants oder des Opernhauses.

In den USA speist sich das Austausch-Meme aus der Fake-Evidenz demografischer Projektionen („in wenigen Jahren sind Weiße in der Minderheit!“). Fachlich ausgewiesene Sozialwissenschaftler haben diese falschen Evidenzen korrigiert. Wichtiger noch ist die Kritik des dualistischen Welt- und Gesellschaftsbilds der „Austausch“-Propaganda. Richard Alba, Morris Levy und Dowell Myers haben gezeigt, wie der Mehrheit-Minderheit-Diskurs bei jedem einzelnen US-Staatsbürger in die Irre geht: „Fast drei von zehn asiatischen, einer von vier lateinamerikanischen und einer von fünf schwarzen Frischvermählten sind mit einem Mitglied einer anderen ethnischen oder rassischen Gruppe verheiratet. Mehr als drei Viertel dieser Ehen werden mit einem weißen Partner geschlossen. Für immer mehr Amerikaner ist die Integration der Rassen in ihre engsten Beziehungen eingebettet.“ Hinzu kommt die Verbreitung und Anerkennung „multirassischer“ Identitäten, die den starren Zensus aufgebrochen haben. „Zahlreiche junge Amerikaner fühlen sich sowohl als Weiße als auch als Angehörige einer rassischen oder ethnischen Minderheit. Jedes neunte Kind, das heute in den USA geboren wird, wächst in einer gemischten Familie aus Weißen und Minderheiten auf, und diese Gruppe wächst stetig. Diese Kinder haben Verwandtschaftsnetze – darunter Großeltern, Tanten und Onkel sowie Cousins und Cousinen –, die sowohl Weiße als auch Minderheiten umfassen. Unter Latinos ist es üblich, sich als weiß oder einfach als amerikanisch zu identifizieren, was die Vorstellung widerlegt, dass Latinos monolithisch als nicht-weiß eingestuft werden sollten.“

In sozialstruktureller Hinsicht steigert Exogamie – eine Heiratsordnung, nach der nur außerhalb des eigenen sozialen Verbandes, eines Stammes oder Sippe geheiratet werden darf – die Chancen zum sozialen Aufstieg, während Endogamie Individuen auf die ihrer Community zugewiesenen Statusmerkmale festlegt und eventuell stigmatisiert. „Gemischtrassige“, wie die elende Terminologie für einen begrüßenswerten Trend lautet, sind derzeit die am stärksten wachsende „ethnische Gruppe“ – die sich dadurch auszeichnet, dass sie eben keine sein will. Die Bedeutung von „White“ wird sich mitverändern. Damit kann man die fortbestehende generelle Privilegierung von „Weißen“ in der US-Gesellschaft nicht übersehen. Um E pluribus unum zu reanimieren, müssen gesetzliche Maßnahmen und bürgergesellschaftliche Initiativen greifen und politische Mehrheiten gewonnen werden – und eben dies zu verhindern ist das ganze Bestreben der republikanischen Rechten, deren Radikalisierung bis zur Hinnahme eines versuchten Staatsstreichs durch Trump am 6. Januar 2021 gegangen ist. Diese Inszenierung bezeichnete der 18-jährige Attentäter von Buffalo als sein zentrales Politisierungserlebnis. Zur Abkühlung des rassistischen Diskurses könnte übrigens auch die antirassistische Linke beitragen, die ihre politische Positionierung weniger an sozialen Klassenfragen ausrichtet als spiegelbildlich an identitären Topoi, die das Sprachspiel der Rechten ungewollt bekräftigen und die Rekonstruktion einer majoritären, Weiße natürlich einbeziehenden rainbow coalition erschwert.

Die Republikanische Partei, die sich der erpresserischen Umklammerung durch Donald Trump ganz offenbar nicht entziehen will, setzt bei den bevorstehenden Zwischenwahlen gezielt auf „Whiteness“ in all ihren evangelikalen, rassistischen und patriarchalen Dimensionen. Es ist zu erwarten, dass auch 2024 vier von fünf nicht-hispanischen Weißen dem Präsidentschafts-Kandidaten der GOP ihre Stimme geben werden. Der letzte Demokrat, der sie noch mehrheitlich für sich gewinnen konnte, war der Texaner Lyndon B. Johnson 1964. Die Angst vor dem Untergang ist über die vergangenen 20 Jahre systematisch genährt worden und sie wird mindestens zwei weitere Dekaden anhalten, solange die Weißen, ihrer eigenen Propaganda zuwiderlaufend, die demografische Mehrheit bleiben werden. In diesem Zeitraum wollen die Republikaner dank des Übergewichts der ländlichen Wahlbezirke beide Häuser des Kongresses für sich reservieren und die Gerichte so besetzen, dass die Gleichstellung der People of Color revidiert und die Zurückstellung von Frauen, Homosexuellen und LGBTQI-Menschen auf Dauer festgeschrieben wird. So soll das Ideologem des Great Replacement in operative Politik überführt werden.

Wie wird die „weiße Mehrheit“ in Deutschland auf die demografische und kulturelle Mutation reagieren? Der Erfolg von „Deutschland schafft sich ab“ und der Vormarsch der AfD speziell in Ostdeutschland lässt eine aggressive Reaktion erwarten, doch auch dort gilt, dass die Veränderungen zur „Bunten Republik“ überwiegend gleichmütig hingenommen oder auch emphatisch begrüßt werden. Die Terroranschläge in Halle und Hanau, die generelle Zunahme fremdenfeindlicher Straftaten und die Wiederbelebung antisemitischer Stereotype (auch unter deutschen „Neubürgern“ muslimischen Glaubens) muss allerdings zu denken geben. Dass (in den seltensten Fällen „verwirrte“) Einzeltäter zur Tat schreiten, nimmt seit Beginn der 1990er-Jahre zu, wobei die Spuren dieses „nationalsozialistischen Untergrunds“ weit in die frühere Geschichte der Bonner Republik (und der DDR) zurückweisen. Der provinzielle NPD-Diskurs hat sich an die in Frankreich und den USA aufgebrachten Narrative angeschlossen, wie Bekenntnis und Vorgehensweise des Attentäters von Halle belegen. Der Kampf gilt den (jüdischen) Globalisten, und er wird arbeitsteilig global gegen die weltweite Verdrängung der Weißen geführt.

Renaud Camus’ „Revolte gegen den großen Austausch“ hat der einschlägige Antaios Verlag von Götz Kubitschek publiziert; er preist es als ein „zorniges, sprachgewaltiges, aufrüttelndes Buch – ‚Revoltiert!‘ heißt die Quintessenz“. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen wurde es von den identitären Vordenkern Martin Lichtmesz und Martin Sellner, die in diesem Pamphlet die Quintessenz aller Teilaktivitäten dieser das Widerstandsrecht in Anspruch nehmenden Bewegung versammelt sehen – von der Globalisierungskritik über den angeblichen deutschen „Schuldkult“ und das verhasste Gendern bis zum „Multikulti-Projekt“. Für die ihnen eng verbundenen AfD-Politiker Alexander Gauland und Björn Höcke tragen Multikulturalismus, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die Frauenemanzipation, der internationale Freihandel und die multilaterale Kooperation allesamt zum „Volkstod“ bei. Kubitschek, Höcke und noch radikalere Kräfte wie der III. Weg geben sich empört, wenn sie gefragt werden, ob Gewaltakte wie in Halle Folgen ihrer Notwehraufrufe seien, aber sie distanzieren sich auch nicht davon, sodass sich die „einsamen Wölfe“ von der imaginierten Volksgemeinschaft beauftragt fühlen dürfen. Zum Repertoire gehört jedenfalls die forcierte Remigration, wie sie Camus für sein Land umschrieben hat: „Es kann und darf keine Gleichheit geben zwischen dem französischen Heimatboden, zwischen dem, was ‚schon seit jeher‘ französisch ist, was Frankreich erst geschaffen hat, was ihm Liebe und Ruhm eingebracht hat, und dem, was anderen Kulturen, Zivilisationen und Traditionen zugehörig ist. Ich will damit nicht sagen, daß andere Kulturen Unkulturen seien, nichts weniger als das, denn sie haben ihre eigenen Tugenden und ihre eigene Geltung. Aber sie können niemals unsere eigene Kultur auf dem Boden unseres eigenen Vaterlandes ersetzen, noch haben sie ein Recht, sich ihr gleichzustellen. Ihnen stehen auf der Welt andere Räume und andere Staaten zur Verfügung, in denen sie gedeihen und sich bewähren können.“

Das ist eine Ausformulierung sogenannter „ethnopluralistischer“ Auffassungen der „Neuen Rechten“, die sich vom phrasenlosen Rassismus der „alten“, also faschistischen und nationalsozialistischen Rechten absetzen will, in Wahrheit aber deren Programmatik weißer Überlegenheit fortführt. Wo immer die Rechtsradikalen auf die letzte Konsequenz ihrer Vorstellungen befragt werden (was übrigens selten geschieht), müssen sie einräumen, dass dies die gewaltförmige Rückführung nicht-europäischer Einwanderer auch in der x-ten Generation ist, die Schließung der europäischen Grenzen gegen Flüchtlinge und Asylbewerber und die Abschaffung des verfassungsmäßigen Geburtsrechts. Die Verquickung dieses Programms mit dem der christlichen Rechten ist in vollem Gange, und das verstärkt seine Bedrohlichkeit: Sind ethno-nationalistische Territorialkonflikte bestenfalls noch durch Verhandlungen und Zeitvergehen zu mäßigen, steigert sie deren fundamentalistische Rahmung als religiöse Reconquista zum unteilbaren Wahrheitsanspruch.

Eine frühere Fassung dieses Beitrags erschien im Merkur, Nr. 881, Oktober 2022.

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