Generalüberholung

Europäische Sicherheit ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine

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PICTURE ALLIANCE/EPA | JUAN CARLOS HIDALGO/POOL
Bündnisse: Javier Solana bei der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag des Beitritts Spaniens zur Nato in Madrid, im vergangenen Jahr.
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PICTURE ALLIANCE/EPA | JUAN CARLOS HIDALGO/POOL
Bündnisse: Javier Solana bei der Festveranstaltung zum 40. Jahrestag des Beitritts Spaniens zur Nato in Madrid, im vergangenen Jahr.

Generalüberholung

Europäische Sicherheit ein Jahr nach dem russischen Angriff auf die Ukraine

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist ein Jahr vergangen – ein guter Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, was wir Europäer als Reaktion auf den russischen Einmarsch in der Ukraine erreicht und gelernt haben und mit welchen Herausforderungen für die Sicherheit unseres Kontinents wir konfrontiert sind.

Im Februar vergangenen Jahres, wenige Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, trafen sich die Staats- und Regierungschefs der Welt – ohne die russische Delegation – zur Münchner Sicherheitskonferenz. Es lag Spannung in der Luft, denn die Möglichkeit eines russischen Angriffs auf die Ukraine war unverkennbar. Es bestand jedoch eine gewisse Hoffnung, dass die Irrationalität und die Kosten eines Krieges auf europäischem Boden – im Kontext der globalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten und einer sich gerade erst von der Covid-19-Pandemie erholenden Weltwirtschaft – den russischen Präsidenten Wladimir Putin letztendlich davon abhalten würden, in ein früheres Mitgliedsland der ehemaligen Sowjetunion einzumarschieren. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch, denn nur wenige Tage später griffen russische Truppen die Ukraine an.

Kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine wurde Putins Fehler offensichtlich. Ein Fakt aus den ersten Monaten des Konflikts war ebenso schockierend wie aufschlussreich im Hinblick auf das Ausmaß des Scheiterns der russischen Militärkampagne: Im April wurde bestätigt, dass vier russische Generäle auf dem Schlachtfeld getötet wurden, während die ukrainische Regierung erklärte, es seien sieben Generäle gewesen. In jedem Fall hatte die russische Armee – oder ihr Äquivalent der Sowjetunion – seit dem Zweiten Weltkrieg keinen solch grausamen Totalschaden mehr erlebt.

Der militärische Fehlschlag Russlands in der Ukraine offenbart ein größeres historisches Versagen. Seit Boris Jelzin zur Jahrtausendwende Putin zu seinem Nachfolger im Amt des russischen Präsidenten ernannte, verlief die Entwicklung Russlands als Land alles andere als vorbildlich. Das Land kann in keiner Weise als modern bezeichnet werden, weder in politischer, wirtschaftlicher noch in militärischer Hinsicht. Dennoch lassen sich die geografischen Gegebenheiten nicht ändern, und für die Europäer wird Russland auch in Zukunft ein Nachbar bleiben, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen.

Putin hat nicht mit einer so starken Reaktion der Verbündeten gerechnet. Im Laufe des vergangenen Jahres haben die transatlantischen Beziehungen wichtige Zeichen der Einheit gesetzt, wie etwa den Nato-Gipfel in Madrid im Juni 2022. In dem Maße, in dem sich Putins imperiale Ziele für Russland klarer abzeichnen – die einen nostalgischen Versuch offenbaren, die verloren geglaubte Größe der Sowjetunion wiederzuerlangen –, haben 44 europäische Länder beim ersten Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag einen wichtigen Schritt getan.

Die Reaktion der Europäischen Union verdient eine besondere Erwähnung, da die EU im Laufe des vergangenen Jahres große Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit bewiesen hat. Dieser Abschnitt der europäischen Geschichte ist von Paradoxien geprägt. Trotz einer Reihe schwerer Erschütterungen hat die europäische Integration in letzter Zeit einen historisch bedeutsamen Schub erfahren. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie in Europa Anfang 2020 haben viele der von der EU getroffenen Entscheidungen, unter anderem in den Bereichen Gesundheit, Energie und Verteidigung, die Mitgliedstaaten politisch näher zusammenrücken lassen. Dies ist keine neue Dynamik in der Geschichte des europäischen Projekts: Dieses wurde besonders durch die Reaktion auf die Krisen, mit denen es konfrontiert war, aufgebaut und gestärkt.

In der europäischen Verteidigungspolitik wurde im vergangenen Jahr viel erreicht, aber es bleibt noch viel zu tun. Der Krieg in der Ukraine hat die EU-Mitgliedstaaten dazu veranlasst, eine beispiellose Aufstockung der Verteidigungshaushalte um insgesamt rund 200 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre anzukündigen. Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben ist zwar ein notwendiger erster Schritt, aber die Art und Weise, in der die Budgets ausgegeben werden, ist mindestens ebenso wichtig wie ihr Umfang. Die Hauptaufgabe der europäischen Regierungen wird darin bestehen, ihre Ressourcen für die Verteidigung sozusagen auf „europäische“ Weise einzusetzen. Die europäischen Hauptstädte müssen sicherstellen, dass ihre Entscheidungen zu Verteidigungsausgaben mit den europäischen strategischen Prioritäten in Einklang stehen.

Trotz der europäischen Entschlossenheit, Putins Invasion entgegenzutreten, muss Europa weiterhin bedenken, dass die Verurteilung des Angriffs auf die Ukraine bei weitem kein universelles Phänomen ist. Ein großer Teil der Weltbevölkerung, einschließlich der Gruppe von Ländern, die wir heute als den Globalen Süden kennen, fasst den Konflikt in der Ukraine nicht als existenziell auf. Für den größten Teil der Welt stellt der Konflikt in der Ukraine in erster Linie eine materielle Bedrohung dar, die sich in einer größeren Ernährungsunsicherheit sowie in steigenden Energiekosten niederschlägt.

Die Abstimmungen in der UN-Generalversammlung zeigen, dass viele Länder zögern, zur Situation in der Ukraine Stellung zu nehmen. Zwar verurteilt eine große Mehrheit der Länder den russischen Angriff auf die Ukraine, aber wenn man die Bevölkerung der Länder zusammenzählt, die in der UN-Vollversammlung gegen diese Resolution gestimmt oder sich der Stimme enthalten haben, kommt man auf eine Zahl, die der Hälfte der Weltbevölkerung entspricht. Auch wenn die großen Bevölkerungen Chinas und Indiens einen großen Teil dieser Summe ausmachen, sollte diese Tatsache dennoch Beachtung finden.

Die vielleicht wichtigste Lehre aus dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist, dass gegenseitige Abhängigkeit weder die Lösung für alle Übel der Welt noch eine Garantie für Frieden darstellt. Moskaus Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, hat bewiesen, dass wirtschaftliche Verflechtungen keine verantwortungsvollen geopolitischen Akteure hervorbringt, auch wenn sie die irrationalen Exzesse einiger Staaten eindämmen können.

Europa hat erfahren, dass eine gegenseitige Abhängigkeit, oder besser gesagt Abhängigkeiten, uns verletzlicher machen können, als wir erwartet hatten. Dementsprechend entschlossen stellen sich die europäischen Regierungen dieser neuen Realität. Im Energiesektor wurden bemerkenswerte Schritte unternommen, um Europa aus der Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu befreien. Noch im Jahr 2021 importierte die EU über 40 Prozent ihres Erdgasbedarfs aus Russland – im November 2022 waren es nur noch rund 13 Prozent.

Während die Auflösung riskanter Abhängigkeiten in strategischen Sektoren wie Energie und Verteidigung ein notwendiger Schritt zur Erhöhung der europäischen Sicherheit für die Zukunft ist, wäre es unehrlich und nicht zielführend, den Einfluss zu ignorieren, den die gegenseitige Abhängigkeit für die internationale Stabilität hatte – und in Zukunft noch haben kann. Die Gegensätze zu gegenseitiger Abhängigkeit – Autarkie und Protektionismus – sind nicht nur kontraproduktiv für die europäische Sicherheit, sondern auch unvereinbar mit dem Gedanken der Global Governance.

Die Verminderung der Abhängigkeit in strategischen Sektoren darf nicht in eine Fragmentierung oder Entkopplung der Weltwirtschaft münden. In einem solchen Szenario würden die multilateralen Institutionen, auf denen die Global Governance beruht, obsolet werden, und dies würde die Lösung globaler Probleme und die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter, von denen die Sicherheit der Menschheit abhängt, unmöglich machen.

So sehr Europa auch in der Lage war, auf die Herausforderungen des russischen Angriffs auf die Ukraine zu reagieren, so viele andere Herausforderungen liegen noch vor uns. Die letzten Wochen, in denen die Verbündeten über die Entsendung von Leopard-2-Panzern debattierten, haben gezeigt, dass Europa gewillt ist, die ukrainischen Streitkräfte weiterhin zu unterstützen. Europa muss mehr leisten, um die Ukraine dabei zu unterstützen, sich selbst zu verteidigen, aber der entscheidende Test wird darin bestehen, einen einheitlichen Umgang mit Russland zu finden.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 spielte die Ukraine eine entscheidende Rolle bei den Bemühungen um Sicherheit und Stabilität in Europa. Einmal mehr hängt die europäische Sicherheit vom Schicksal der Ukraine als Nation ab. Die Ukrainer verdienen es, in einem freien und unabhängigen Land zu leben – und als Europäer stehen wir in der historischen Verantwortung, dies zu ermöglichen.

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