Was hinter dem internationalen Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 steckt
Was hinter dem internationalen Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 steckt
Zur Erinnerung: In Mitteleuropa fehlen große Kohlenwasserstoffvorkommen (vor allem Erdöl und Erdgas). Auf der Jamal-Halbinsel und rund um die Mündung der Karasee in Russland finden sich hingegen die größten Gasfelder der Welt.
Diese Ungleichverteilung an Ressourcen hat zur Folge, dass mehr als die Hälfte des Erdgases, das die großen, relativ wohlhabenden Bevölkerungszentren Europas importieren, aus Sibirien kommt. Ein geologischer Zufall ist also der Grund dafür, dass die Rohstoffe für die Industriezentren Europas mit großem finanziellen und logistischen Aufwand von außerhalb des Kontinents bezogen werden müssen.
In der starren Debatte über die Nord-Stream-2-Pipeline fokussierte sich die Standardkritik an dem Projekt bisher auf das Problem der europäischen „Abhängigkeit“ von russischen Gaslieferungen. Pipelines schaffen langfristige Verpflichtungen: Ist es also klug, das Angewiesensein auf den russischen Staat in Sachen Energie noch zu erhöhen? Im vorherrschenden politischen Klima einer hysterischen Russophobie wird Nord Stream 2 häufig als direkte Kollaboration mit Wladimir Putin aufgefasst, der angeblich an der Spitze eines wieder auflebenden regionalen Imperiums stehe. Die Realitäten in Russland im Jahr 2021– in dem Öl- und Gasverkäufe 60 Prozent der Exporte und 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen – zeigen jedoch ein anderes Bild. Weit davon entfernt, ein erneut zum Leben erwecktes Reich des Bösen zu sein, ist Russland faktisch zu einem Dritte-Welt-Modell einer Geheimdienst-Aristokratie zurückgekehrt, die sich durch den Verkauf von natürlichen Ressourcen finanziert. Russlands Rolle als Gaslieferant für Europa stellt keinen strategischen Hebel bereit, wie ihn etwa die Vereinigten Staaten mit der Kontrolle über die Lieferungen von kohlenwasserstoffbasierten Ressourcen aus dem Persischen Golf nach Ostasien besitzen, denn Russland ist weitaus mehr auf die Einnahmen aus dem Energieverkauf angewiesen als umgekehrt Europa auf die Lieferung russischen Gases.
Dass Russlands Position eine der Verwundbarkeit und nicht eine des potenziellen Druckausübens ist, ist sowohl in Moskau als auch in Washington (von dem Europa faktisch durch militärische Vereinbarungen in Abhängigkeit gehalten wird) gut bekannt. Denn solange bedeutende Mengen sibirischen Gases durch Osteuropa geleitet werden müssen, ist die Gefahr gegeben, dass der russische Staat erpresst werden könnte. Die Ukraine – die sich unklugerweise in eine unsichere Annäherung an die EU hat locken lassen – könnte Energieexporte blockieren, indem sie den Transport durch ihr Territorium verweigert oder die Transitgebühren erhöht. Die Mehrheit der jüngsten strategischen Entscheidungen Russlands ist dieser Angst geschuldet. Die Annexion der Krim ist nur das offensichtlichste Beispiel für diese übergeordneten Befürchtungen. Das geschickt eingefädelte Spiel, durch das Alexander Lukaschenko bei den Wahlen in Weißrussland auf Linie im Sinne Russlands gebracht wurde, ist ein weiteres.
Es überrascht kaum, dass die USA in ihrem vielschichtigen Bemühen, einen Ausbau der europäisch-russischen Gasverbindung zu verzögern, vor allem das Abhängigkeitsparadigma verbreitet haben. Neben dem aktiven Betreiben einer Anti-Russland-Allianz osteuropäischer Staaten durch das US-Außenministerium und der Verhängung extraterritorialer Sanktionen war der Schutz Europas vor einer „Abhängigkeit von Russland“ immer zentraler Bestandteil amerikanischer Strategie.
Ohne einen Durchbruch in der Technologie zur Speicherung von Energie können erneuerbare Energien das kohlenwasserstoffbasierte System zwar ergänzen, aber nicht ersetzen. Und bis zu diesem Durchbruch – wenn es überhaupt so weit kommt – wird Gas eher an Bedeutung zunehmen. Die Bedenken angesichts der Interessen und Absichten des Putin-Clans lenken von der Tatsache ab, dass die grundlegenden Dynamiken im Energiebereich bestehen bleiben werden, ganz gleich, wer Russland regiert. Und im Großen und Ganzen gilt das genauso auch für die Erwartungen, die sich derzeit an die Biden-Regierung richten.
Können wir dann, wenn wir die Ängste vor der Abhängigkeit von Putin einmal beiseitelassen, wie die Befürworter der Pipeline es tun, ohne Weiteres zu dem Schluss kommen, dass die russisch-deutsche Gaspolitik schlicht eine geschäftliche Angelegenheit ohne größere Auswirkungen ist? Hier lohnt es, sich die Krisen näher anzuschauen, die sich zeitgleich mit der Russland-Pipeline-Debatte ereignet haben. Die erste Nord-Stream-Pipeline wurde inmitten der Euro-Schuldenkrise eröffnet, die auf dramatische Weise die Spaltung innerhalb der EU zwischen den südlichen Staaten und einem sich hinter Deutschland versammelnden nördlichen Block (zu dem auch Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden gehören, wobei die beiden Letzteren keine Erfahrung mit den übergreifenden Auswirkungen einer multinationalen Geldpolitik haben) erkennbar machte.
Das politische Establishment der nördlichen Staaten weigerte sich anzuerkennen – und dies bis heute –, dass es allein von einem Währungsregime profitiert, in welchem Exportüberschüsse nicht automatisch durch eine Aufwertung begrenzt werden – quasi ein Geschenk, das dem Norden auf Kosten der Arbeitslosigkeit im Süden zufällt (im Herbst 2020 lag das italienische Bruttoinlandsprodukt zehn Prozent unter dem Niveau von 2008).
Innerhalb Europas nimmt die Bedeutung der Abhängigkeit von sibirischem Gas ab, je weiter man nach Westen und Süden kommt: Die Energieallianz mit Russland ist für Deutschland lebenswichtig, während sie für Spanien und Portugal nur von geringerem Interesse ist. Zahlreiche Flüssigerdgas-(LNG-)Importterminals konzentrieren sich auf den Südwesten der iberischen Halbinsel. Ist es also ein Zufall, dass Deutschland wegen Nord Stream 2 nicht nur von den unmittelbar betroffenen Ländern Polen und Ukraine, sondern auch von anderen, westeuropäischen Staaten zumindest zaghaft herausgefordert wird?
Zunächst wurde die Finanzkrise als ein externer Schock behandelt, der schnell aufzufangen sei. Aber die Risse gingen viel tiefer als vermutet. Auf eine gesamteuropäische Politik der Solidarität konnte man sich nicht einigen. Daher muss jede Entscheidung, die das Potenzial hat, die Nord-Süd-Spaltung in Europa weiter zu vertiefen, mit Vorsicht abgewägt werden. Die Bedrohung, die von Nord Stream 2 ausgeht, ist keine externe, geschweige denn russische, sondern – wie alle bestehenden europäischen Probleme – eine interne.
Im Falle des Pipeline-Projekts sind all dies keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Die deutsche politische Elite sieht sich selbst zwar als eine Ansammlung von Erzpragmatikern, doch bis zum heutigen Tag täuschen sie sich darin, wie Deutschland in der Eurozone wirklich funktioniert. Denn das extrem konservative deutsche Finanzregime hat das Problem der innereuropäischen Ungleichheit weiter verschärft. Auch die jüngste und nur sehr leichte Aufweichung von Wolfgang Schäubles striktem Haushaltskurs ist keinesfalls ausreichend, um dies zu ändern. Das Ergebnis von all dem ist, dass der innere Zusammenhalt Europas Schaden genommen hat, der nun in allen Aspekten betrachtet werden muss. Daran ändert auch der Corona-Rettungsfonds nichts. Denn mit ihm wurde zwar aus Angst vor dem italienischen Rechtsaußen Matteo Salvini eine in der Tat notwendige, letztlich aber doch nur klägliche Form europäischer Solidarität erreicht. Vor diesem Hintergrund sollte die Frage der energiepolitischen Beziehungen zu Russland nicht durch konstruierte Ängste vor Putin verzerrt werden. Doch was soll man von einem politischen Diskurs halten, in dem selbst die groben Konturen und Dynamiken des zugrunde liegenden strategischen Problems derart falsch eingeschätzt werden?