„Gewinnt Putin, bedeutet das, dass Ihre Welt verliert. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen – aber bald und mit großer Sicherheit“

Die ukrainische Expertin für Internationale Beziehungen, Olga Kuchmagra, über Waffenlieferungen, die deutsche Debatte und Freunde, die von einem Tag auf den nächsten Soldaten in einem Krieg wurden

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ISTOCKPHOTO.COM/ZEYNEP SEZER
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„Gewinnt Putin, bedeutet das, dass Ihre Welt verliert. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen – aber bald und mit großer Sicherheit“

Die ukrainische Expertin für Internationale Beziehungen, Olga Kuchmagra, über Waffenlieferungen, die deutsche Debatte und Freunde, die von einem Tag auf den nächsten Soldaten in einem Krieg wurden

Seit mehr als einem halben Jahr läuft nun der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. In der deutschen Politik wird nach wie vor über Waffenlieferungen diskutiert – welche, wie viele und wann. Wie nehmen die Menschen in der Ukraine diese Debatte wahr?

Ich könnte nicht stolzer sein auf meine Nation, die tatsächlich seit mehr als einem halben Jahr gegen die russische Aggression kämpft. Trotzdem braucht die Ukraine dringend Waffen, um diesen Kampf fortzusetzen. Es ist wirklich eine Überlebensfrage, und es ist etwas, was unsere Regierungsvertreter täglich bei ihren internationalen Partnern anmahnen. Wenn wir nur herumsitzen, nichts tun, zu kämpfen aufhören, dann hört unser Land einfach auf zu existieren. Und dazu sind die Ukrainer nicht bereit – unsere einzige Wahl ist es, für unser Überleben zu kämpfen. Außerdem brauchen wir Ukrainer diese Waffen so bald wie möglich, um unsere Häuser und das Recht, in unserem Land zu leben, zu verteidigen. Denn während einige europäische Politiker die Lage beobachten und Entscheidungen treffen – oder eben nicht treffen –, sterben Menschen. Selbstverständlich verfolgen die Menschen in der Ukraine, wer unser Land in welchem Umfang unterstützt und wer Waffenlieferungen oder finanzielle Hilfen blockiert. Es fällt schwer, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass einige Länder, Politiker und Regierungen uns mehr unterstützen und andere weniger. Es fällt schwer, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass einige Länder Reisevisa für Russen verhindern und Panzer zur Verfügung stellen, während andere Russen in ihren Ländern herzlich willkommen heißen und Waffenlieferungen blockieren. Besonders enttäuschend ist, dass manche politischen Entscheidungen nichts mit der Einstellung der Bevölkerung zu tun haben. Ich persönlich hoffe, dass diejenigen, die einige wichtige Entscheidungen blockieren, früher oder später doch begreifen, dass der Krieg näher ist, als sie vielleicht denken, und damit beginnen, die Ukraine aktiver zu unterstützen.

Viele Ihrer ehemaligen Kollegen, Bekannten und Freunde sind aus ihrem zivilen Leben zu den ukrainischen Streitkräften gewechselt. Was erzählen sie Ihnen über ihre Situation? Wie gehen sie damit um, dass sie früher hinter einem Schreibtisch in einem Büro saßen und nun mit der Waffe in der Hand ihr Land verteidigen?

Es gibt niemanden in der Ukraine, der nicht einen Freund, Verwandten, Kollegen, Klassenkameraden, Nachbarn oder wen auch immer bei den Streitkräften hat. Es gibt Journalisten, Balletttänzer, Musiker – Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, die im Krieg kämpfen und das ukrainische Territorium vor der russischen Aggression schützen. Ich bilde da keine Ausnahme, und ich habe einige in meinem Freundeskreis, die gerade jetzt an der Front sind. Das bedeutet also, dass es neben den Berufssoldaten auch Menschen gibt, die früher ein völlig anderes Leben gelebt haben, wahrscheinlich ein ähnliches Leben wie die Menschen, die dies hier nun lesen. Was meine Freunde betrifft, die sich entschieden haben, den Streitkräften der Ukraine beizutreten, so lässt sich sagen: Sie haben keine Sekunde gezögert, weil sie das Gefühl hatten, dass es das einzig Richtige war, an die Front zu gehen, um die Ukraine, die Zukunft des Landes und ihre Familien zu schützen. Und es war ihre bewusste Entscheidung. Das ist wahrscheinlich etwas, was die ukrainischen Streitkräfte von den russischen unterscheidet. Die Ukrainer wissen ganz genau, wofür sie kämpfen, und sie wissen es jeden Tag aufs Neue.



Olga Kuchmagra


Die östliche Region der Ukraine war in der Vergangenheit eher Russland zugeneigt. Jetzt werden viele Dörfer von der russischen Kontrolle befreit. Ganz generell gesprochen, war das Land gespalten? Was hat der Krieg daran geändert? Hat Russland die ukrainische Bevölkerung faktisch vereint?

Die Teilung zwischen einer Ost- und einer Westukraine erschien mir schon immer ziemlich künstlich. Sicher, es hat sich so ergeben, dass die östlichen und südlichen Regionen des Landes eher russischsprachig sind – aber erinnern wir uns, ist das nicht der Grund dafür, dass Russland seit vielen Jahren eine Politik der Russifizierung betreibt, um die nationale, politische und sprachliche Position Russlands zu stärken? –, während der westliche Teil des Landes eher ukrainischsprachig ist. Aber selbst wenn eine Person Ukrainisch und eine andere Russisch spricht, so war das in der Ukraine nie ein Problem, denn auch diejenigen, die Russisch sprechen, verstehen Ukrainisch sehr gut. Natürlich ist die Ukraine ein demokratisches Land, in dem es Menschen mit durchaus unterschiedlichen Ansichten gibt. Außerdem finden regelmäßig demokratische Wahlen statt, und den Menschen steht es frei, sich an den Wahlen zu beteiligen und ihre Positionen zum Ausdruck zu bringen. Prorussische politische Parteien waren in der Ukraine allerdings noch nie sehr populär, auch wenn sie im Parlament vertreten sind. In der Folge der groß angelegten Invasion in die gesamte Ukraine habe ich jedoch das Gefühl, dass selbst diejenigen, die zuvor prorussisch waren, ihre Haltung geändert haben, spätestens als sie sahen, was in Butcha, Irpin, Isjum und anderen Städten geschehen war, welche Kriegsverbrechen und sonstigen aggressiven Verbrechen von Russland seit Beginn des Krieges begangen worden waren. Außerdem habe ich festgestellt, dass viele Menschen, die im Alltag früher lieber Russisch sprachen, nach Kriegsbeginn zum Ukrainischen gewechselt sind. Die Ukrainer wollen einfach nichts mehr mit den Russen gemeinsam haben. Ich denke, das ist ein klares Zeichen für die Haltung der Ukrainer zu dem, was vor sich geht. Die Erwartung, dass die Ukrainer in den russischsprachigen Gebieten des Landes das russische Militär begrüßen würden, war nichts anderes als ein verrückter Traum von Putin. Könnte sich jemand vorstellen, dass die französischsprachige Bevölkerung Belgiens einen Anlass für Frankreich abgeben könnte, eine „militärische Spezialoperation“ durchzuführen, etwa um diese Menschen zu retten und einige Gebiete zu annektieren? Und ebenso wenig gibt es nachvollziehbare Gründe für ein ähnliches Szenario in der Ukraine. Das ukrainische Volk ist in der Tat zurzeit im Kampf gegen Russland sehr geeint und vereint.

Es hat den Anschein, dass sich die deutsche Debatte zu einem überwiegenden Teil um die steigenden Heizkosten infolge der fehlenden Gaslieferungen aus Russland dreht. Wovor haben die Ukrainer am meisten Angst, wenn sie an den kommenden Winter denken?

Ich denke, dass es ein großer Fehler einiger Länder ist, sich in so starke Abhängigkeit von russischem Gas gebracht zu haben. Natürlich sind sie jetzt mit den Folgen dieser Entscheidungen konfrontiert. Das ist einer der Gründe, warum solche Diskussionen aktuell so omnipräsent sind. Ich erinnere mich daran, dass die Ukrainer seit vielen Jahren vor Nord Stream 2 gewarnt haben, einem Projekt, das sich – kaum überraschend – als zu 100 Prozent politisch motiviert erwiesen hat. Die Ukrainer rechnen mit einem harten Winter. Wir machen uns keine Illusionen über Russland. Wir wissen, dass es Raketen auf Heiz- und Kraftwerke abfeuern, kritische Infrastrukturen zerstören und uns das Leben zur Hölle machen kann – das passiert auch bereits. Aber wie schon der ukrainische Präsident Selenskyj vor Kurzem sagte: „Selbst wenn wir vor der Wahl stehen sollten, entweder auf Strom oder auf Russland verzichten zu müssen, werden die Ukrainer es vorziehen, auf Russland zu verzichten.“ Ich denke, dass die Menschen in Europa auch akzeptieren sollten, für die Sanktionen gegen Russland einen Preis zu zahlen, unter anderem steigende Heizkosten, denn die Alternative ist, später einen noch höheren Preis zu zahlen.

Die Ansicht, dass die Ukraine nicht nur ihr Land und ihr Volk, sondern auch die Freiheit und die Demokratie verteidigt, wird oft in Zweifel gezogen. Was könnte dazu beitragen, deutlich zu machen, wie wichtig dieser Kampf auch für Deutschland und Europa ist?

Es ist absolut richtig, dass es in diesem Krieg nicht nur um die Ukraine geht. Offensichtlich prallen hier zwei unterschiedliche Welten mit zwei einander entgegengesetzten Wertesystemen aufeinander. Gewinnt Putin, bedeutet das, dass Ihre Welt verliert. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen – aber bald und mit großer Sicherheit. Es zeigt sich zudem, dass es auch im 21. Jahrhundert durchaus jemanden gibt, der die bestehenden Grenzen infrage stellen, Gebiete gewaltsam annektieren und beschließen kann, dass eine bestimmte Nation kein Existenzrecht haben sollte. Wir, die Ukrainer, zahlen einen ziemlich hohen Preis – viele einzelne Leben –, um unsere Welt und unser Wertesystem zum Sieg zu führen, während sich der von Deutschland und Europa gezahlte Preis bisher mit Geld bemessen lässt. Ich denke, dass neben dem moralischen Aspekt und der Tatsache, dass es einfach unmöglich ist, in einer normalen Welt zu akzeptieren, was Russland tut, auch der Sicherheitsaspekt von Bedeutung ist: Das Risiko, dass eines Tages jemand beginnt, die Grenzen Ihres Landes oder anderer europäischer Länder nicht mehr anzuerkennen und Gewalt anzuwenden, um seinen Willen durchzusetzen, sollte ein gewichtiger Grund sein, die Ukraine jetzt weiterhin zu unterstützen und die Tragweite dieser Unterstützung zu verstehen.

Sie leben und arbeiten jetzt seit mehr als sechs Monaten in Deutschland. Was hat Sie im Alltag hier am meisten überrascht – ob angenehm, unangenehm oder in irgendeiner dazwischenliegenden Weise?

Ich hatte nie die Absicht, mein Land zu verlassen, da ich es sehr liebe. Alle meine Vorhaben standen und stehen immer noch mit der Ukraine und ihrer demokratischen Entwicklung in Zusammenhang. Auch wenn ich hier lebe, versuche ich, wichtige Dinge für mein Land zu tun – jedoch mit einem kleinen Unterschied: Es gibt hier im Moment keine Raketen am Himmel und keine Explosionen wie in der Ukraine. Auch wenn ich nur die ersten zwei Kriegstage in der Ukraine erlebt habe, bekomme ich auch hier noch Angst, wenn ich laute Geräusche, Hubschrauber usw. höre. Ich kann nicht sagen, dass mich irgendetwas besonders überrascht hätte. Nein, ich fühle mich aktuell eher in einer Art Automatikmodus, und außerdem bin ich bereits seit vielen Jahren mit der Arbeit in multikulturellen Teams vertraut. Deutschland ist eher bürokratisch organisiert, nicht alle Dienste sind digital so entwickelt wie in der Ukraine. Ganz ehrlich, ich habe in meinem ganzen bisherigen Leben in der Ukraine noch nie so viele Papierbriefe erhalten wie hier allein im letzten halben Jahr. Ich war schockiert, als ich sah, dass in Berlin Autokorsos und Kundgebungen für den Krieg stattfanden, und konnte nicht aufhören, mir die Frage zu stellen, wie es möglich sein kann, dass so etwas erlaubt ist. Ich bin jedoch persönlich von sehr unterstützenden und proukrainischen Deutschen umgeben, die nachvollziehen können, dass Waffen an die Ukraine geliefert werden müssen, und die einsehen, dass ein Preis – in Form der Sanktionen gegen Russland – zu zahlen ist. Das ist in dieser Situation ein großer Vorteil, vor allem, wenn man bedenkt, dass die deutsche Regierung manchmal wichtige Entscheidungen für die Ukraine zu blockieren scheint. Darum fühle ich mich hier durchaus wohl, soweit dies angesichts der Gesamtsituation eben möglich ist.

Die Fragen stellte Lutz Lichtenberger.

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