Gorbatschow und wir

Größe und Tragik– und ein Glücksfall für die Menschheit.
Eine Verneigung

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PICTURE-ALLIANCE/DPA | DPA FENDER
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Gorbatschow und wir

Größe und Tragik– und ein Glücksfall für die Menschheit.
Eine Verneigung

Er ist – und bleibt – ja ein wagemutiger Mann. Immer zeichneten ihn großes Selbstvertrauen, Offenheit und Neugier aus. Aber auch Skrupel und tiefe Trauer. Und allen politischen Verletzungen zum Trotz entschloss sich Michail Sergejewitsch Gorbatschow dazu, ein „glücklicher Reformer“ zu bleiben, wie er sagte; ein Optimist.

Unverdrossen hat er sich in den vergangenen Jahren immer wieder zu Wort gemeldet, seinen zahlreichen Alterskrankheiten trotzend Bücher diktiert und Interviews gegeben. Mal mehr, mal weniger kritisch gegenüber Wladimir Putin, dem Mann, der ihn so konsequent ignoriert. Dabei sind sie fast Nachbarn entlang der Rubljowka-Chaussee außerhalb Moskaus. Dort lebt Gorbatschow allein, „mit sich“, wie er sagt, in einer bescheidenen Datscha, die dem ersten – und letzten – Präsidenten der Sowjetunion nach seinem Rücktritt Ende 1991 zugeteilt wurde, kaum mehr als ein Gnadenakt.

Zunehmend kritisch aber auch gegenüber dem Westen und zumindest einigen Politikern in Deutschland, denen er vorwarf, eine „Atmosphäre der Feindschaft“ gegenüber Russland zu erzeugen. Er möchte ein Mahner und Friedensstifter bleiben. Er fürchtet die politische Rückabwicklung der Welt, die er zu gestalten half.

Aus gutem Grund – lebt er doch ein Jahrhundertleben. Er zeigte uns, was möglich sein kann. Ihm fiel es zu, die Welt friedlich zu verändern. Nach sechs Jahren an der Macht buchstäblich an die Grenzen stoßend, zeigte er aber auch, wie schnell alles wieder zerfallen kann.

Wie dankbar ich dafür bin, ihn kennenlernen zu dürfen. Ende der 1980er-Jahre war ich als junge Korrespondentin in die Sowjetunion zurückgekehrt, zuvor war ich als Sprachstudentin in Moskau. Ich kam in ein neues Land. Traf Michail Gorbatschow noch als Generalsekretär der Kommunistischen Partei, mächtigster Mann einer allerdings faktisch bankrotten nuklearen Supermacht, der nach dem Schock der Tschernobyl-Katastrophe innenpolitisch auf Perestroika- und außenpolitisch auf Abrüstungskurs mit den USA gegangen war: „Wir konnten so nicht weiterleben.“

Nie wollte er die Sowjetunion abwickeln, im Gegenteil: Nach seinen Vorstellungen würde eine runderneuerte Sowjetunion ihren Bewohnern endlich und vielleicht zum ersten Mal ein besseres sozialistisches Leben bieten. Seine Perestroika war: die letzte sowjetische Utopie. Dafür setzte er seinen Charme, Witz und Überzeugungskraft als Waffe im Nahkampf der Begegnungen mit den Menschen ein. Und mehr, viel mehr: Die Menschen durften reisen, ohne Angst sprechen. Die Geheimarchive mit ihren kaum zu ertragenden Wahrheiten über die sowjetische Geschichte öffneten sich, Stalins Massengräber. Die Menschen sprachen mit uns, dieser vielstimmige Chor; wie uns ihre erschütternden Lebensgeschichten berührten. Nach dem Fall der Mauer wurden wir, damals noch westdeutsche Korrespondenten, überall im endlich ohne KGB-Überwachung bereisbaren Land beglückwünscht.

Es sei wie mit Geschwistern, erklärte man uns: Schließlich könne auch ein Volk auf Dauer nicht getrennt bleiben. Sicher hätten die Deutschen aus dem Krieg gelernt, es sei schließlich auch eine Frage der historischen Gerechtigkeit; und immer wieder rührte uns ihre Herzensfreundlichkeit zu Tränen, ihr unbedingter Wille zur Versöhnung.

Wir versuchten, Russland und die Geschichte der Sowjetunion zu verstehen. Es ist uns wohl nicht immer gelungen.

Michail Gorbatschow war ein Kind des russischen Südens, der weiten Steppen am Rande des Kaukasus, dort, wo man sich schon immer freier fühlen durfte. Vor 90 Jahren hineingeboren in die von Stalins Zwangskollektivierung verursachte Hungersnot mit Millionen Toten vor allem in der Ukraine; aber auch viele Mitglieder seiner eigenen Familie verhungerten. Hineingeboren in die tiefe Armut seines Dorfes Priwolnoje, in dieses sowjetische Leibeigenenleben der Kolchosen. Seine beiden Großväter litten unter Stalins politischem Terror – ein Wunder, dass sie überlebten. Und er, ein abgemagerter Junge mit raspelkurzem blonden Haar, oft barfuß laufend, denn Schuhe waren Mangelware.

Michail war zehn Jahre alt, als im Juni 1941 der Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Völker der Sowjetunion begann. Die Männer, auch sein Vater Sergej, an der Front; auch aus Priwolnoje wurde ein Dorf der Greise, Frauen und halbverhungerten Kinder, die bereits im elendig kalten ersten Kriegswinter kaum etwas zu essen hatten. Die Deutschen plünderten das Dorf, seine Mutter musste Zwangsarbeit leisten. Bis Priwolnoje drangen die Nachrichten über die Massenerschießungen. Die Deutschen ermordeten Zehntausende allein dort, im Vorland des Kaukasus. Sie, die Deutschen, kamen mit kleinen Lastwagen, in denen sie die Menschen mit Gas töteten. „Duschegubki“ nannte man sie, die Seelentöter.

Es war an Symbolmacht kaum zu überbieten, als Gorbatschow Bundeskanzler Helmut Kohl — den Mann, der ihn anfangs mit Goebbels verglichen hatte – im Juli 1990 in den russischen Süden reisen ließ, um dort festzuschreiben, was er wenige Wochen zuvor in Washington vollkommen überraschend zugesagt hatte, eine Weltsensation: die deutsche Einheit in der Nato. „Politik ist hin und wieder die Suche des Möglichen in der Sphäre des Ungewöhnlichen“, sagte er damals. Und dann flogen sie im Hubschrauber über die Weizenfelder im Kreis Stawropol, Heimat des gelernten Mähdrescherfahrers Gorbatschow. Kletterten auf einen roten Mähdrescher, vor ihnen ein Meer aus Weizen, erntereif.

Dieser Moment sei von großer Bedeutung für ihn gewesen, erklärte mir Gorbatschow viele Jahre später: Dass dort, in seiner Heimat, der Russe und der Deutsche den Grundstein einer gemeinsamen Zukunft in Europa legten. Und dass es nun endlich vorbei war mit dem Krieg und dem Hass und der Angst.

Die Erfahrung absoluter Macht, dieses Ausgeliefertsein, prägte ihn; aber auch seine Frau Raissa, die Liebe seines Lebens. Gewalt war keine Option für ihn. Er machte eine sowjetsozialistische Karriere, arbeitete sich unermüdlich hoch vom Mähdrescherfahrer zum Absolventen der Juristischen Fakultät der Universität Moskau, stieg vom einfachen Parteimitglied zum KP-Generalsekretär mit nahezu unbegrenzter Macht auf. Er glaubte an den Sozialismus, dieses Ideal des Friedens der Gerechtigkeit. Er war ein „Schestidesjatnik“, einer aus der Generation der „Sechziger“. Sie wollten an den Prager Frühling 1968 anknüpfen, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz bauen. Sie wollten endlich freier atmen.

Die Teilung Deutschlands schien Gorbatschow lange eine verdiente Folge des Krieges, der Preis, den die Deutschen für die Sicherheit der Sowjetunion zahlen mussten. Eine erste Annäherung gelang ihm mithilfe der Ostdeutschen. Eine Studentengruppe aus der DDR kam Anfang der 1970er-Jahre nach Stawropol. Man traf sich im örtlichen Restaurant, trank, sang Lieder. „Es war die DDR, die für uns Russen zum Tor zu den Deutschen wurde“, sagte er, „und die ersten Schritte zur menschlichen Versöhnung ermöglichte.“

Und dann, in jenem schon so fernen Herbst 1989, schob er alle Geheimdienstberichte beiseite und stellte sich taub gegenüber dem gefährlichen Eingeflüster seiner Deutschland-Experten wie Valentin Falin. Als Gorbatschow am 6. Oktober 1989 zu den 40-Jahr-Feierlichkeiten der DDR in Ost-Berlin eintraf, machte er dem Genossen Honecker noch am gleichen Tag vor Kameras des (unzensierten) West-Fernsehens klar, wohin die Reise ging – für die DDR, aber auch für die anderen Staaten des Warschauer Paktes: „Jedes Volk wird selbst bestimmen, was notwendig ist. Ich denke, Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Es war die Urfassung des Satzes, der später als „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ Karriere machte.

An jenem 6. Oktober 1989 marschierte die FDJ-Jugend unter Fackeln, „Gorbi!, Gorbi!“ skandierend. Und drei Tage später, am 9. Oktober, gingen die mutigen Bürger in Leipzig auf die Straße. Dass sich die Deutschen ihre friedliche Revolution trauten, diesen Glücksfall der Geschichte, verdanken sie auch Michail Gorbatschow. Denn er ließ die sowjetischen Panzer in ihren Kasernen, die 370 000 in der DDR stationierten Sowjetsoldaten. Das ist es, was bleibt.

Was für ihn ein ökonomisch ebenso notwendiger wie politisch konsequenter Akt der Befreiung war, geriet einem anderen Sowjetbürger zur totalen Kapitulation. Als „Paralyse der Macht“ beschrieb ein 1989 in Dresden stationierter junger KGB-Offizier die erlittene Schmach. Das inkompetente Führungspersonal habe den Verlust der sowjetischen Position in Europa verschuldet und am Ende auch den Zusammenfall der Sowjetunion: „Sie haben einfach alles hingeschmissen und sind gegangen.“ Es war wohl eine Lebenslehre für ihn: Nie wieder dürfe Russland so erniedrigt werden. Und er selbst, Wladimir Putin, schon gar nicht.

Der Fall der Mauer bedeutete auch für Gorbatschow eine Zeitenwende. Bald wurde der Baumeister einer neuen Welt, Unterzeichner der Charta von Paris, zum Getriebenen, am Ende kaum mehr als ein Bittsteller, dem die Staatsmänner des Westens in aller Freundschaft klipp und klar machten, wer den Kalten Krieg wirklich gewonnen hatte. Es war eine seiner größten politischen Enttäuschungen: „Vielleicht haben sie mir in Wahrheit nie wirklich vertraut.“ Während er verzweifelt um westliche Hilfsgelder und einen neuen Unionsvertrag zum Erhalt der Sowjetunion kämpfte, fuhr eine Koalition westlicher Realpolitiker die Ernte ein, bevor das „Gewitter“ begann, wie es Helmut Kohl beschrieb: Sie besiegelten die deutsche Einheit und den Abzug der Roten Armee aus der nun schon ehemaligen DDR, bevor Gorbatschow gestürzt würde oder die Sowjetunion zusammenbräche.

Wie polterte der damalige US-Präsident George Bush? „Zum Teufel damit. Wir haben die Oberhand gewonnen und nicht sie. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets eine Niederlage in einen Sieg ummünzen.“

Und bald wuchs das Misstrauen, Reflexe des Kalten Krieges: Der Verlust der DDR, Kronjuwel des ehemaligen Sowjet-Imperiums, erschien als Kapitulation vor dem Westen. Als kippe Gorbatschow den unter Abermillionen Opfern errungenen sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg auf den Kehrichthaufen der Geschichte, verschleudere nationale Würde gegen ein paar Dollar, D-Mark und verlogene Schmeicheleien.

All dies gehört zur Dolchstoßlegende vom vermeintlichen „Verrat“ Gorbatschows. Zur Implosion der Sowjetunion aber führten die eigenen strukturellen Schwächen und unendliche Gier. Bald krallte sich in Russland, aber auch in den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken, eine neue, korrupte Elite an die Macht, die in Wahrheit die alte Elite geblieben war. Reformunwillig nahm sie sich das ganze Land als Beute. Bis heute.

Am Ende, im Dezember 1991, als wenige Monate nach einem gescheiterten Putschversuch betrunkener Altkommunisten die Sowjetunion von Gorbatschows Intimfeind, dem russischen Präsidenten Boris Jelzin, abgewickelt wurde, konnte es gar nicht schnell genug gehen. Innerhalb von 24 Stunden sollte Gorbatschow Wohnung und Präsidentenresidenz räumen. Seine Immunität wurde aufgehoben, öffentliche Auftritte untersagt, seine Pension schrumpfte zeitweise auf umgerechnet zwei Dollar.

Eine offizielle Verabschiedung für den Friedensnobelpreisträger gab es nie. Und auch im Westen vergaß man ihn. Eine Weile trug ihn, „Gorbi“, die Dankbarkeit der Deutschen, dann verblasste auch sie.

Zur eigentlichen Tragödie seines Lebens aber, vielleicht darf man dieses Urteil wagen, wurde der frühe Tod seiner Frau Raissa 1999, sie war an Leukämie erkrankt. Er fühle sich schuldig an ihrem Leiden und ihrem Tod, sagte er uns in einem Gespräch im Büro seiner Stiftung in Moskau. „Ich hätte sie schützen müssen.“ Während des Putschversuchs im August 1991 hatte sie einen leichten Schlaganfall erlitten. Und konnte die Anfeindungen und die Häme, die ihrem Mann entgegenschlugen, nicht mehr ertragen.

Er selbst wollte nach ihrem Tod nicht mehr weiterleben. Und zwang sich doch dazu. Im Lauf der Jahre nagte auch die Hybris der Politiker im Westen zunehmend an ihm, ihr Unverständnis und ihre Härte: „Als ob alles ihr Verdienst gewesen sei“, sagte er.

Sein eigenes Land ist in die Zeit vor ihm zurückgekehrt. „Er gab uns die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen“, sagt die Politologin Lilija Schewzowa, eine Freundin Gorbatschows. „Doch wir nutzten diese Chance nicht. Gorbatschow hatte kein Glück mit uns – doch er war ein Glücksfall für uns. Es wird noch lange dauern, bis wir dies verstehen.“

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 90. Geburtstag, verehrter Michail Sergejewitsch. Wir verneigen uns.

Katja Gloger, Osteuropahistorikerin und langjährige Moskau-Korrespondentin, hatte die Ehre, Michail Gorbatschow kennenlernen zu dürfen. Im Lauf der Jahre traf sie ihn immer wieder; in ihrem Buch „Fremde Freunde“ über Russen und Deutsche widmete sie ihm und seiner Politik ein Kapitel: „Ich habe an die Türen der Geschichte geklopft, und sie taten sich auf.“

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