Moralfrage oder strukturelles Problem. Was folgt aus den Maskenaffären der Union?
Moralfrage oder strukturelles Problem. Was folgt aus den Maskenaffären der Union?
Für die Union kommt es in diesen Tagen knüppeldick. Nicht nur, dass das schlechte Management der Coronakrise sich immer mehr gegen die führende Regierungspartei zu kehren beginnt. Zur wachsenden Unzufriedenheit der Bürger treten peinliche Affären hinzu, die CDU und CSU weiter in den Abwärtsstrudel ziehen könnten. Zwei Abgeordnete haben ihr Mandat bereits abgegeben, ein weiterer sieht sich einem Ermittlungsverfahren gegenüber und ist deshalb aus Partei und Fraktion ausgetreten. Die Reaktion der Parteispitzen auf das Fehlverhalten in den eigenen Reihen war ebenso konsequent wie alternativlos. Gleichzeitig machte es den immensen Glaubwürdigkeitsschaden für jedermann offenkundig, waren doch die Unionsparteien nun auf einmal bereit, scharfe Gegenmaßnahmen zu ergreifen, die sie bis dato stets abgelehnt hatten. Die Oppositionsparteien, aber auch die SPD werden sich diesen Sinneswandel als Wahlkampfthema nicht entgehen lassen.
Schnell abräumen lässt sich das Thema für die Union nicht. Der CSU-Abgeordnete Georg Nüßlein zeigt bisher keine Bereitschaft, der Aufforderung zum Mandatsverzicht nachzukommen. Der Partei- und Fraktionsführung sind dort rechtlich die Hände gebunden, denn der Austritt oder Ausschluss aus einer Fraktion lässt das freie Mandat unberührt. Entzogen werden kann es einem Abgeordneten nur, wenn ihm nach einer Verurteilung in einem Strafprozess das passive Wahlrecht aberkannt wird oder wenn das Bundesverfassungsgericht die Partei, für die er bei der Wahl angetreten sind, verbietet. Die Rückgabe muss also freiwillig erfolgen. Steht ein Parlamentarier, wie im Fall Nüßlein, ohnehin vor dem politischen Aus, wird er dem Druck vielleicht standhalten.
Dass Unionsabgeordnete von den Vorfällen häufiger betroffen sind als Vertreter anderer Parteien, lässt das Fehlverhalten nicht allein als Charakter- oder Moralfrage erscheinen, sondern zugleich als ein strukturelles Problem. Wo eine Partei schon lange in führender Position regiert und wo sie ideologisch-programmatisch eine besondere Nähe zur freien Marktwirtschaft und zum Unternehmertum aufweist, wachsen auch die Versuchungen des Geldes. Das gilt für einzelne Personen wie für die Partei insgesamt. Es ist also kein Zufall, dass sich gerade die Union den aus der Öffentlichkeit und von anderen Parteien ausgehenden Bestrebungen, das Verhältnis von Parteipolitik und Wirtschaft strenger zu regulieren, immer wieder erfolgreich widersetzt hat. Erst unter dem Druck der jetzigen Affäre ist sie zu Veränderungen bereit.
Vier Regelungskomplexe, die zum Teil eng miteinander verwoben sind, gilt es zu unterscheiden. Der erste Komplex betrifft die Parteienfinanzierung. Dass die Parteien über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft ablegen müssen, steht aus guten Gründen bereits im Grundgesetz. In der Praxis werden die Transparenzregelungen aber immer wieder umgangen. Beispiele sind die Stückelung von Spenden (9999 Euro!), für die jetzt Jens Spahn ins Gerede kommen ist, oder das ausufernde Sponsoring. Problematisch ist auch, die Sanktionierung etwaiger Verstöße dem Bundestagspräsidium zu überantworten, in dem ja die Parteien selbst vertreten sind, und nicht einer unabhängigen Behörde. In all diesen Punkten sollten sich die Parteien zu besseren Regeln durchringen, bevor sie das Verfassungsgericht dazu zwingt.
Der zweite Bereich sind die Nebentätigkeiten. Auch dort besteht bei den Anzeigepflichten noch „Luft nach oben“, obwohl die Regeln in Deutschland strikter gefasst sind als anderswo. Ein generelles Verbot von Nebentätigkeiten wäre verfassungswidrig und empfiehlt sich auch nicht, weil es für die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen dadurch noch unattraktiver werden könnte, ein Mandat anzustreben – anders als etwa beim öffentlichen Dienst, wo sich das Problem der Rückkehr nicht stellt. Bei der Offenlegung der Einkünfte könnte eine vollständige Transparenz überdies mit Betriebsgeheimnissen kollidieren, die dem Schutz der Eigentumsfreiheit unterliegen.
Der dritte Regelungskomplex betrifft Interessenkollisionen, die durch funktionelle und institutionelle Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft entstehen. Darunter fallen laufende Aufsichtsratstätigkeiten ebenso wie der Wechsel aus dem politischen Amt in die Wirtschaft – sei es während oder nach der Karriere. Die letztgenannten Phänome sind seit den 2000er-Jahren immer häufiger zu beobachten und bleiben keineswegs auf Unionspolitiker beschränkt, wie das umstrittene Gazprom-Engagement von Altkanzler Gerhard Schröder beweist. Ob es dort mit einem strengeren Moralkodex getan ist oder zusätzliche rechtliche Einschränkungen vorgenommen werden müssen, wäre zu diskutieren.
Der vierte und letzte Komplex bezieht sich auf das Lobbying. Nach zähem Ringen hat die Union in der Frage des Lobbyregisters inzwischen eingelenkt, den vom Koalitionspartner SPD und Teilen der Öffentlichkeit geforderten „exekutiven Fußabdruck“, der zur Offenlegung der einzelnen Kontakte verpflichtet, aber verhindert. Dass der Kompromiss noch einmal aufgeschnürt wird, ist unwahrscheinlich. Regelungsbedürftig bleibt zudem das Thema Vorteilsnahme und Bestechung. Dass die Abgeordneten milder behandelt werden als Beamte und Regierungsmitglieder, leuchtet nicht ein. Die Union hat aber auch dort bereits einen ersten Schritt gemacht, indem sie in ihrem Verhaltenskodex zumindest die Fraktionsspitzen denselben strengeren Regelungen unterwerfen will, die für die Exekutive gelten.
Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass Parteien und Politiker bei all diesen Fragen „in eigener Sache“ entscheiden müssen. Den anderen Parteien dürfte es dabei in der Vergangenheit mitunter sogar recht gewesen sein, wenn sie ihre Skepsis gegenüber allzu strengen Regelungen hinter der Blockadehaltung der Union verstecken konnten. Die Gefahr, dass anstelle des Parteienwettbewerbs die Kartellbildung tritt, ist insbesondere bei der Parteienfinanzierung stets gegeben und hat das Bundesverfassungsgericht veranlasst, gerade dort genau hinzuschauen.
Eine andere Frage ist, ob man nicht schon in den parlamentarischen Verfahren für eine breitere Interessenrepräsentation sorgen könnte. Wenn die Parteien bereit wären, auch Experten und unvoreingenommene Bürger in die Entscheidungsprozesse einzubinden, kämen wahrscheinlich bessere, durchgreifendere Lösungen heraus. Doch dazu hat ihnen bisher leider der Mut gefehlt.