Habitus

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Habitus

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Dieser Sonntag wird spannend – nicht nur für Frankreich, auch für Europa: Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen. Denkbar knapp könnte es ausgehen. Hoffentlich wird der alte Präsident auch der neue sein. Eine derzeit in Schäfchenwolle gehüllte rechtsextreme Präsidentin kann hierzulande für Frankreich oder Europa niemand wollen. Bedauerlicherweise ist Emmanuel Macron ungeachtet eines gewissen Präsidentenbonus’, der ihm eigentlich zugutekommen müsste, in Frankreich nicht sonderlich beliebt.

Die Erklärungsmuster für die Ablehnung, die ihm aus der Bevölkerung entgegenschlägt, muten aus deutscher Sicht unbefriedigend an, kann Macron doch enorme wirtschaftliche und sozialpolitische Erfolge aufweisen, darunter deutlich verbesserte Bildungschancen, eine beträchtliche Senkung der Jugendarbeitslosigkeit und ein sehr kräftiges Wirtschaftswachstum. Tatsächlich hat er die Republik „en marche“ gesetzt. Doch zollen ihm dafür nur wenige Respekt. Warum?

In Frankreich verlaufen gesellschaftliche Trennungslinien anders als in Deutschland. Da ist nicht nur der altbekannte Stadt-Land-Konflikt eines zentralisierten Staates. Da ist auch etwas, das in die Kategorie Habitus fällt und in einem teils noch elitär geprägten Land dem Gros der Bevölkerung womöglich viel stärker als hierzulande aufstößt.

Man hätte sich gewünscht, Macron hätte sich vor ein paar Monaten das Werk La Distinction. Critique sociale du jugement (zu Deutsch: Der feine Unterschied) des berühmten französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002) vorgenommen. Die gesellschaftskritische Studie ist zwar bereits 1979 erschienen, deshalb allerdings keinesfalls inaktuell. Im Gegenteil. Bourdieu definiert die sozialen Unterschiede wesentlich differenzierter als lediglich entlang der üblichen Spaltungslinie von Arbeit und Kapital, Arm und Reich, Haben und Nicht-Haben. Seiner Meinung nach gibt es neben dem ökonomischen Kapital noch drei weitere Vermögensarten: eine kulturelle, eine soziale und eine symbolische. Bourdieu spricht vom Habitus und damit von der Summe dessen, was Menschen von anderen unterscheidet: der Geschmack, die Art, sich zu kleiden, sich zu bewegen, zu gestikulieren, zu reden – die Entäußerung der Herkunft also, die soziale DNA, die sich niemals verleugnen lasse. Dieser Habitus prägt nicht nur die sozialen Beziehungen, sondern markiert auch die Distanz zu denen, die wiederum einen ganz anderen Habitus pflegen und ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit darüber zum Ausdruck bringen.

Macrons Habitus ist nicht volksnah, sondern elitär. Er würde – nach Bourdieu – auch niemals volksnah werden können. Nur: Hätten Macron und seine Berater „La Distinction“ vor ein paar Monaten aufgeschlagen, hätten sie sich womöglich etwas einfallen lassen, das die mangelnde Volksnähe kompensiert. Sie wären sicher deutlich früher und anders in den Wahlkampf eingestiegen. Dafür aber ist es jetzt zu spät. Die Wahl läuft Gefahr, den französischen Soziologen posthum zu bestätigen. Dass nämlich zu viele Wählerinnen und Wähler fernab jeglicher sozial- und wirtschaftspolitischer Vernunft allein aufgrund des Habitus ihres Präsidenten zu dem Schluss kommen: Der ist nicht von uns und auch nichts für uns.

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