Handfeste Probleme

Die Ausgangslage der Berliner Parteien sechs Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl

14
08
PICTURE ALLIANCE/FLASHPIC | JENS KRICK (2); JÖRG CARSTENSEN
Franziska Giffey (SPD), Bettina Jarasch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN), Kai Wegner (CDU)
14
08
PICTURE ALLIANCE/FLASHPIC | JENS KRICK (2); JÖRG CARSTENSEN
Franziska Giffey (SPD), Bettina Jarasch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN), Kai Wegner (CDU)

Handfeste Probleme

Die Ausgangslage der Berliner Parteien sechs Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl

Bei der ersten Abgeordnetenhauswahl im wiedervereinten Berlin, die 1990 mit der ersten Bundestagswahl gekoppelt war, die in Berlin überhaupt stattfand, wurden SPD und CDU von deutlich mehr als der Hälfte aller Wahlberechtigten (56,6 Prozent) gewählt. Ein knappes Viertel (23,4 Prozent) wählte eine andere Partei; ein Fünftel (20 Prozent) beteiligte sich nicht an der Wahl.

Nachdem die Euphorie über die vereinte Stadt nach fünf Jahren des eher grauen Alltags und einer nicht sonderlich überzeugenden Stadtregierung verflogen war, schrumpfte der Anteil der beiden damals an sich noch als „groß“ zu charakterisierenden Parteien CDU und SPD bei der Abgeordnetenhauswahl 1995 schon auf 41 Prozent (bezogen auf alle Wahlberechtigten). Der Anteil der anderen Parteien stieg auf 26, der der Nichtwähler auf 33 Prozent. Und bis zur letzten Abgeordnetenhauswahl 2016 ging der Anteil der CDU- und SPD-Wähler weiter zurück: Nur etwas mehr als ein Viertel (25,8 Prozent) aller Wahlberechtigten gab 2016 der CDU oder SPD die Stimme. Die anderen Parteien wurden von 40 Prozent der Wahlberechtigten gewählt, 34,2 Prozent gingen gar nicht zur Wahl.

Die SPD, die im einstigen Westteil der Stadt lange Zeit die dominante politische Kraft war, blieb mit 21,6 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen 2016 zwar noch knapp die stärkste Partei und konnte in einer Koalition mit der CDU und den Grünen den Regierenden Bürgermeister stellen – doch im Vergleich mit ihrer einstmaligen Stärke im alten Westteil der Stadt (1963 wurde die SPD mit Willy Brandt von mehr als 60 Prozent der Wähler gewählt) war die SPD nur noch eine kleine Partei. Von 100 Wahlberechtigten gaben ihr nur noch 14 die Stimme. Damit konkurrierte die SPD mit der CDU, die von 12, der Linken und den Grünen, die von jeweils 10 und der AfD, die von 9 von 100 Wahlberechtigten gewählt wurde.

In Berlin war damit das Parteienspektrum 2016 so zersplittert wie sonst nirgendwo in der Republik. Dieser „Flickenteppich“ dürfte auch nach der 2021 wieder mit einer Bundestagswahl gekoppelten Abgeordnetenhauswahl erhalten bleiben. Dabei schrumpfte bei den Umfragen seit 2016 die Zahl der SPD-Anhänger weiter: Zeitweilig wollten nur 15 Prozent der Befragten, die sich auch an einer Wahl zum Abgeordnetenhaus beteiligen wollten, der SPD noch ihre Stimme geben. Das lag am Zustand der SPD in der Hauptstadt, aber auch an der geringen Zufriedenheit der Berliner mit der Regierung in ihrer Stadt und mit dem Regierungschef. Im Vergleich der Bundesländer war die Zufriedenheit mit der Arbeit der Landesregierung und der des Ministerpräsidenten beziehungsweise des Regierenden Bürgermeisters nirgendwo so niedrig wie in Berlin.

Nach dem Rückzug von Michael Müller aus der Berliner Politik hätte die SPD nach einer aktuellen, im Auftrag des Hauptstadtbriefs von Forsa in der Stadt durchgeführten Umfrage jetzt wieder die Chance, stärkste Partei zu bleiben. Mit 21 Prozent liegt sie sechs Wochen vor dem Wahltermin gleichauf mit den Grünen und 4 Prozentpunkte vor der CDU mit 17 und 7 Prozentpunkte vor der Linke mit 14 Prozent. Die FDP könnte mit 7, die AfD mit 10 Prozent der abgegebenen Stimmen rechnen. Weitere 10 Prozent würden eine der vielen kandidierenden sonstigen kleinen Parteien wählen.

Die CDU dürfte wenig Chancen haben, stärkste Partei zu werden, da die Urteile über die Partei in der Stadt und über deren Spitzenkandidaten gleichermaßen eher verhalten sind. So bewerten den CDU-Bürgermeisterkandidaten Kai Wegner nur 9 Prozent der Berliner positiv, fast doppelt so viele aber (15 Prozent) negativ. Und 76 Prozent können Wegner überhaupt nicht beurteilen, da sie ihn entweder gar nicht kennen, oder aber, weil er keinerlei Profil gewinnen konnte. Und könnten die Berliner ihren Regierenden Bürgermeister direkt wählen, würden sich nur 13 Prozent der Wahlberechtigten und auch nur 47 Prozent der CDU-Anhänger für Wegner entscheiden. Ebenfalls nur 13 Prozent der Berliner trauen auch Wegners Partei, der CDU, zu, mit den Problemen in der Stadt fertigwerden zu können. Zudem dürfte die wegen ihres Kanzlerkandidaten schwächelnde Bundes-CDU der Berliner CDU kaum Aufwind geben.

Den Grünen in der Stadt trauen mit 11 Prozent noch weniger Berliner als der CDU zu, mit den Problemen in der Stadt fertigwerden zu können. Außer beim Klima- und Umweltschutz wird den Grünen in keinem anderen Politikfeld politische Kompetenz zugetraut. Und die Bürgermeisterkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, kennen die meisten Wahlberechtigten in der Stadt (69 Prozent) überhaupt nicht, und selbst von den Anhängern der Grünen können nur 24 Prozent den Namen der Kandidatin ihrer Partei nennen. Von denen, die Jarasch kennen, bewerten sie mehr negativ (21 Prozent) als positiv (10 Prozent). Dass die Grünen in Berlin noch gleichauf mit der SPD liegen, ist nicht durch die Attraktivität der Berliner Grünen, sondern nur durch die seit 2017 bundesweit gestiegene Zustimmung zur grünen Bewegung insgesamt bedingt.

Die Chance der SPD, stärkste Partei zu werden, wird vor allem durch die Popularität ihrer Bürgermeisterkandidatin, Franziska Giffey, möglich. Giffey ist nicht nur im Gegensatz zu ihren Mitbewerberinnen und Mitbewerbern um das Bürgermeisteramt bekannter, sondern sie wird durchaus positiv als bürgernah (42 Prozent), sympathisch (36 Prozent) oder tatkräftig (32 Prozent) bewertet. Bei einer Direktwahl des Regierenden Bürgermeisters würden sich 35 Prozent aller Wahlberechtigten, 82 Prozent der SPD-Anhänger, aber auch 32 Prozent der Anhänger der Linke und 30 Prozent der CDU-Anhänger für sie entscheiden.

Allerdings entsprechen die Urteile der Berliner über Giffeys Partei, die SPD, nicht der positiven Bewertung der SPD-Kandidatin. Auch der Berliner SPD trauen nur wenige Wahlberechtigte in der Stadt (14 Prozent) zu, mit den Problemen in der Stadt fertigwerden zu können. Um die Chance zu nutzen, stärkste Partei zu werden, müsste die SPD also Giffey auf ihrem pragmatischen Kurs, der sich an den Interessen der Mehrheit der Menschen in der Stadt und nicht an Befindlichkeiten von Randgruppen orientiert, folgen. Die meisten Bürger in der Stadt erwarten nämlich von der Politik, dass sie sich um „handfeste“ Probleme des Alltags kümmert – wie den Wohnungsmarkt, die vielfältigen durch Modetorheiten der Verkehrsplaner noch verstärkten Probleme des Verkehrs in der Stadt, die Gewalt und die Kriminalität generell sowie die Bandenkriminalität im Besonderen. Erwartet wird auch, dass die Verwaltung in der Stadt endlich ihre Aufgaben für die Menschen in der Stadt bewältigen kann.

Derzeit wollen aber viele, die sich Giffey als Regierende Bürgermeisterin wünschen, noch nicht der SPD ihre Stimme geben. 83 Prozent derjenigen, die Giffey wählen würden, wollen die SPD nicht wählen, weil sie sie für wenig kompetent, unfähig, zu links oder zu zerstritten halten und zudem meinen, die Stadt sei mit dem jetzigen Senat unter Führung der SPD und von Michael Müller schlecht regiert worden. Wenn aber die Berliner SPD Giffeys Politik für die Mitte der Gesellschaft in der Stadt mitträgt, könnte sie ein Stück ihrer alten Stärke zurückgewinnen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe