Editorial des Verlegers
Editorial des Verlegers
Liebe Leserinnen und Leser,
es ist, als ob wir von Geschichte umgeben wären, zumal in diesen Wochen, in denen wir des 30. Jahrestages der Wiedervereinigung gedenken. Zuvor begingen wir in diesem Jahr schon 75 Jahre Kriegsende, gedachten des Atombombenabwurfs von Hiroshima und Nagasaki, des Deutsch-Französischen Krieges von 1870, der Gründung Groß-Berlins 1920 – die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Und doch gibt es ein eigentümliches Missverhältnis zwischen der Parade der Gedenkveranstaltungen und einer bestimmten Art von Geschichtsbewusstsein.
Dieser geistige Graben ist mir bei der Lektüre des erfrischend hellsichtigen und im besten nüchternen Sinne optimistischen neuen Buches von Magnus Brechtken, „Der Wert der Geschichte. Zehn Lektionen für die Gegenwart“, immer klarer geworden.
Brechtken hält den Fortschritt des Wissens und „seine Anwendung in der harten Welt von Wissenschaft, Technik und Medizin“ für selbstverständlich – „Wer sich im Jahr 2020 einen entzündeten Zahn ziehen lassen muss, der geht zur Arztpraxis, nicht zum Dorfschmied.“ In der „weichen Welt“ der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sehe dies gleichwohl anders aus. Das liegt, so der Stellvertretende Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München, daran, „dass vielen Menschen die Erfahrungen unserer Vorfahren, aus denen wir für unsere Gegenwart lernen können, kaum mehr vertraut sind.“
Ich freue mich, dass wir Magnus Brechtken dafür gewinnen konnten, seine Gedanken in einem eleganten Essay für diesen Hauptstadtbrief am Sonntag, gerade an diesem geschichtsträchtigen Wochenende, vorzustellen.
Im zweiten Beitrag dieses Hauptstadtbriefes führt Gwendolyn Sasse am konkreten Beispiel vor, wie historische Erzählungen und Erinnerungen, bewusst oder unbewusst, politische Ansichten bis heute prägen. Die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) hat die Einstellungen in Ost- und Westdeutschland gegenüber Russland untersucht – und konnte feststellen, in welchen Fragen es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung tatsächlich kaum noch Unterschiede gibt. Zugleich versteht Sasse es auch zu zeigen, wie das deutsche Russlandbild wie „eine Projektionsfläche für Kritik und Forderungen in Bezug auf die deutsche, europäische und amerikanische Politik“ wirkt.
Durch die Lektüre von Sasses Beitrag hat sich auch mein Blick auf die zahlreichen Diskussionen über das deutsche Verhältnis zu Russland der vergangenen Jahre in meinem verlegerischen und privaten Umfeld verändert. Beide Seiten erscheinen mir mit ihren politischen und persönlichen Ansichten klarer und schärfer konturiert – Sasses Analyse ist tatsächlich eine, wie sie schreibt, hervorragende „Möglichkeit für einen Gesprächseinstieg“.
Mit der Hoffnung auf auch weiterhin spannende Debatten verbleibe ich mit herzlichen Grüßen
Ihr Detlef Prinz