Ein Nachruf auf Hans-Jochen Vogel
Ein Nachruf auf Hans-Jochen Vogel
Von Detlef Prinz
Notwendige Vorbemerkung: Hans-Jochen Vogel hat alle Würdigungen verdient, die ihm nach seinem von langer Krankheit begleiteten Ableben am Sonntag nachgerufen wurden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren indes die Verfasser geneigt, diesem großen Sozialdemokraten noch einmal die Kränze zu winden und Attribute zu attestieren, die ihn zeit seines reichen und langen politischen Lebens beinahe als Klischee begleitet haben.
Wer ihn näher erleben durfte, der weiß allerdings, dass Hans-Jochen Vogel unter der harten Schale seiner Exekutiv-Exzellenz einen menschlichen Kern verbarg, ohne den Politik, sozialdemokratische allzumal, nie mehr wäre als funktionierende Technokratie.
Hans-Jochen Vogel war das genaue Gegenteil eines Technokraten – er war ein leidenschaftlicher – und, ja – christlich gesinnter Sozialdemokrat, der stets wusste, dass Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für Menschen zu erkämpfen zur Voraussetzung hat, sich in allen Details möglichst perfekt auszukennen, das Relevante vom weniger Relevanten zu unterscheiden, nie nachzulassen in seinen Bemühungen und einen klaren reformerischen Impuls zu verfolgen. Damit das Leben von Millionen Menschen besser wird.
Als ich am Sonntag die Nachricht vom Tod Hans-Jochen Vogels vernahm, füllten sich meine Gedanken daher mit persönlichen Erinnerungen an diesen großen Mann, für die ich dankbar bin. Ich möchte diese Erinnerungen anhand von vier Erlebnissen mit Hans-Jochen und seiner Art, sozialdemokratische Politik zu machen und zugleich Mensch sein zu können, kurz illustrieren.
Hans-Jochen war gerade mal eine Woche als Regierender Bürgermeister im Rathaus Schöneberg im Amt, als Frau Fischer, seine Sekretärin, bei mir anrief und mir mitteilte, dass der Regierende Bürgermeister mich um 16:05 Uhr telefonisch zu sprechen wünschte. Ich kannte Hans-Jochen Vogel aus vielen Parteigremien, war mit ihm im Arbeitskreis katholischer Sozialdemokraten und im Parteirat. Er sagte zu mir: „Detlef, ich würde gern mit dir über die Lage der Hausbesetzungen sprechen und deine Meinung dazu hören.“ Ich sagte: „Sehr gerne, Hans-Jochen, wann soll ich kommen?“ Er sagte: „Morgen früh um 5:45 Uhr.“ Da man in der Regel um 5:45 Uhr keine anderen Termine haben kann, sagte ich spontan: „Sehr gerne!“
Mittlerweile wurde in der Öffentlichkeit berichtet, wer sich auch nur um eine Minute verspätete, musste damit rechnen, dass die entsprechenden Unterlagen vom Schreibtisch des Regierenden Bürgermeisters direkt vor den eigenen Füßen landeten. Insofern war ich vorgewarnt und stellte den Wecker auf 4 Uhr morgens. Unabhängig davon verschlief ich natürlich nach dem ersten Weckerklingeln und kam genau zehn Minuten zu spät.
In der Annahme, dass auch ich nun meine Abreibung von ihm bekommen würde, betrat ich den Raum: „Entschuldigung, lieber Hans-Jochen, ich habe leider verschlafen.“ Statt eines Donnerwetters aber sagte er: „Ja, Detlef, das sehe ich, wir haben anstrengende Zeiten. Bitte nimm Platz, und lass uns gleich sprechen.“
Diese ungewöhnliche Freundlichkeit wurde von seinem anwesenden Senatskanzleichef Rainer Papenfuß und seinem Büroleiter Karl-Heinz Gehm schon mal irritiert registriert, wie ich schnell feststellte. Der Grund aber wurde sofort klar, denn in dem Gespräch teilte er mir sogleich mit, er wolle direkten Kontakt zu den Hausbesetzern haben, obwohl diese einen direkten Kontakt zum Senat strikt ablehnten. Ich versprach ihm, mich zu bemühen, und fragte: „Wann soll das sein?“ Er antwortete: „Heute Nacht!“
Auch ich hatte keine direkten Kontakte zu den Hausbesetzern, aber Gustl Roth, der Superintendent der evangelischen Kirchen in Kreuzberg, verfügte über einen sehr guten Zugang, und es gelang mir mit seiner Hilfe, mit den Sprechern der Hausbesetzer für 1 Uhr nachts einen Termin zu vereinbaren.
Ich holte Hans-Jochen Vogel im Rathaus Schöneberg mit meinem Wagen ab, ohne Polizei, ohne Begleitung – nur der Regierende Bürgermeister und ich fuhren in die Naunynstraße. Zu dritt, mit Gustl Roth, trafen wir dann die fünf Sprecher der Hausbesetzer, vier davon waren vermummt.
Zweieinhalb Stunden diskutierten wir mit ihnen, und ich habe dabei zum ersten Mal Hans-Jochen von einer so sensiblen, nachdenklichen, offenen und ehrlichen Art erlebt, als Mensch und Politiker, was mir zuvor in seinen anderen Funktionen verborgen geblieben war. Wir waren auf einem sehr guten Weg, Hans-Jochen leitete die Diskussionen mit den städtischen Wohnungsbaugesellschaften und setze sich für die Möglichkeit von temporären Mietverträgen ein mit DEGEWO, Stadt, Bezirken und anderen Akteuren in Berlin. Es war das erste Mal, dass ich an Hans-Jochen Vogel auch eine andere Seite als die sonst öffentlich bekannte erleben durfte.
Die zweite Begegnung, die mir einen anderen Hans-Jochen Vogel – als den öffentlich bekannten – zeigte, war die, als er mich am Rande einer SPD-Landesvorstandssitzung fragte (ich war damals Mitglied des SFB-Rundfunkrates): „Sag mal, Detlef, wann kommt denn der Dieter Hildebrandt wieder nach Berlin?“ Da ich in der Regel über das Kulturleben und interessante Events in meiner Geburtsstadt gut informiert war, sagte ich sofort: „In der nächsten Woche ist die ganze Mannschaft wieder mal da.“
Dazu muss man wissen, dass es seinerzeit Tradition war, dass sich nach der Sendung „Scheibenwischer“ von Dieter Hildebrandt die ganze Münchner Truppe mit Rainer Basedow, Jochen Busse, Henning Venske, Werner Schneyder immer um 22 Uhr im Hinkelstein auf einen langen Absacker traf. Hans-Jochen meinte daraufhin: „Das ist gut – ich werde als Überraschungsgast dazustoßen.“ Er tat das übrigens gemeinsam mit seiner Frau, und es war ein so wunderbarer Abend, an den ich mich zeitlebens erinnern werde. Denn ich erlebte wieder einen anderen Hans-Jochen Vogel, der laut anfing zu singen und die anderen trinkfesten Barden aus München in den Schatten stellte. Und Sammy Drechsel, der alte Haudegen, forderte Vogel auf, sofort wieder zurück nach München zu kommen. Ein Hans-Jochen Vogel von der launischen, ironischen und vor allem sehr witzigen Seite.
Dass Hans-Jochen Vogel aber auch anders und penibel-strikt sein konnte, habe ich bei seiner Ankunft in Berlin erlebt. Es gab am Montag um 15 Uhr eine gemeinsame Sitzung des SPD-Landesvorstands und der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Vogel wurde vom Flughafen Tegel abgeholt. Der große BKA-Wagen zum Schutze des Justizministers aus Bonn war schon anwesend. Vogel kam aus dem Flughafengebäude und fragte den Fahrer: „Was ist das für ein Dienstwagen?“ Es wurde ihm ehrlich geantwortet: „Ein Dienstwagen der Senatskanzlei.“ Schon der Fahrer erhielt eine Standpauke, dass es sich in seiner Eigenschaft als SPD-Funktionär nicht gehöre, mit einem Dienstwagen der Senatskanzlei zum Rathaus Schöneberg zu fahren. Er nahm sich ein Taxi, und zur großen Belustigung aller anwesenden Journalisten, die vor dem Rathaus warteten, fuhr ein Taxi vor, danach der BKA-Panzerwagen und zum Schluss der leere Dienstwagen.
Dass er oberlehrerhaft sein konnte, habe ich erlebt in einem Gespräch des Arbeitskreises sozialdemokratischer Katholiken, das einmal im Jahr stattfand mit den katholischen Bischöfen. Diese freuten sich auf einen unterhaltsamen gemeinsamen Abend mit den sozialdemokratischen Schwestern und Brüdern im Geiste. Aber Hans-Jochen Vogel wollte, bevor es zum gemütlichen Teil überging, erst einmal über die Konsequenzen des Zweiten Vatikanischen Konzils diskutieren – sehr zum Ärger einiger Kirchenvertreter – und begann dies auch in lateinischer Sprache, worüber all jene, die über kein großes Latinum verfügten, entsetzt waren. Aber das gehört fast ins anekdotische Fach, weil ich auch bei solchen Erlebnissen nie ganz den Eindruck verlor, als wollte Hans-Jochen seinem legendären Ruf ein wenig gerecht werden.
Hans-Jochen Vogel, der aus einer Bildungsbürgerfamilie stammte und selbst hochgebildet war, habe ich im persönlichen Austausch immer nur als sehr offen, ehrlich, integer und menschlich erlebt. Das ihm stets angeheftete Oberlehrerhafte kann ich nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil: Als er eines seiner ersten Gespräche in Berlin mit seinem Amtsvorgänger Dietrich Stobbe und mir führte, sprach er sogleich unverstellt und offen die beiden seinerzeit in der öffentlichen Berichterstattung heftig debattierten Probleme in Berlin an: den angeblichen Filz in der Stadt und den schon seinerzeit eher „linken“ SPD-Landesverband. Hans-Jochen war in seinem Urteil überhaupt nicht vorgeprägt, sondern neu- und wissgierig auf unsere Einschätzungen.
Ich werde auch nie vergessen, wie er in Neukölln (seinem Wahlkreis für das Abgeordnetenhaus) mit den Berlinerinnen und Berlinern aufmerksam und an der Sache entlang diskutierte, sich jede Wortmeldung notierte und – da bin ich zu hundert Prozent sicher – alles abgearbeitet hat. Weil er wusste, dass Demokratie im Wortsinne Volksherrschaft bedeutet und dazu eben gehört, die Begehren von Bürgerinnen und Bürgern erst zu nehmen, indem man darauf antwortet, wenngleich man den Menschen nie nach dem Munde reden sollte.
Gewiss: Hans-Jochen Vogel war der Überpünktliche, der Penible, der Pflichtbewusste, der Parteisoldat, der (gelegentlich) Oberlehrerhafte, insbesondere dem politischen Gegner gegenüber, die Exekutiv-Exzellenz wie auch in späten Jahren der nie vergessliche und immer noch engagierte politische Privatier. Aber all diese Facetten, beinahe inflationär gebraucht, sollten nie verdecken, dass Hans-Jochen Vogel eben mehr war als nur diese Ansammlung von Attributen eines politischen Pflichtmenschen.
Insofern, lieber Hans-Jochen, ein kleiner und korrigierender, aber umso herzlicherer Nachruf auf dich und dein unvergessenes politisches Wirken. Du warst ein großer Sozialdemokrat und ein großartiger Mensch und Menschenfreund – für mich und unzählige Menschen ein Vorbild.