Hauptstimmen und Nebenwidersprüche

Die Wahlrechtsreform ist – einfach ziemlich gut

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GRAFIK: SHUTTERSTOCK/LIGHTSPRING
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Hauptstimmen und Nebenwidersprüche

Die Wahlrechtsreform ist – einfach ziemlich gut

Mit Superlativen sollte man immer vorsichtig sein, aber der von den drei Ampelfraktionen soeben vorgelegte Gesetzentwurf für eine Wahlsystemreform verdient einen. Es ist in der Tat ein großer Wurf – als solchen hat ihn Sebastian Hartmann, der SPD-Obmann in der Wahlrechtskommission, in der Plenardebatte am 28. Januar zu Recht bezeichnet –, den man den Parteien nach den ernüchternden Erfahrungen der Vergangenheit fast nicht mehr zugetraut hätte. Zwei Gründe sind dafür maßgeblich: Zum einen wird mit dem Vorschlag das Problem der Vergrößerung des Bundestages nachhaltig gelöst. Wie immer sich das Parteiensystem und die Kräfteverhältnisse bei den kommenden Wahlen entwickeln: Das Parlament hat genau 598 Abgeordnete, es gibt keine zusätzlichen Mandate. Zum anderen wird ein weiteres ärgerliches Defizit des Wahlsystems durch eine simple, aber folgenreiche Korrektur beseitigt. Bis heute glaubt etwa ein Drittel der Wähler, die Erststimme sei wichtiger oder genauso wichtig wie die Zweitstimme. Wird die Zweitstimme jetzt wie vorgeschlagen in „Hauptstimme“ und die Erststimme in „Wahlkreisstimme“ umbenannt, dürfte mit diesem Missverständnis Schluss sein.

Respekt verdient vor allem die Konsequenz, mit der die Ampel den Bundestag wieder auf seine reguläre Größe zurückführen möchte. Viele Abgeordnete werden mit dieser Reform über ihre eigene Abschaffung beschließen – entgegen dem verbreiteten Vorurteil, Politiker dächten nur an sich selbst. Warum war ein so beherztes Vorgehen nicht schon in der letzten oder vorletzten Wahlperiode möglich? Der Grund liegt darin, dass die jetzige Reform nicht mehr bei der Zahl der Wahlkreise oder bei der Verrechnung von Überhang- mit Listenmandaten ansetzt, wie man es früher versucht hat oder versuchen wollte. Die Absenkung der Zahl der Wahlkreise kann die Überhangmandate nur dann substanziell vermindern, wenn man von den derzeit 299 auf 240 oder weniger Direktmandate heruntergeht – die von der Großen Koalition 2020 beschlossene Absenkung auf 280 ab der nächsten Wahl reicht nicht aus. Gegen eine zu starke Reduktion gibt es aber grundsätzliche Bedenken, weil die in manchen Flächenländern ohnehin schon großen Wahlkreise dann noch größer würden – weniger statt mehr Bürgernähe wäre die Folge. Dasselbe gilt für die Verrechnung der Überhänge mit Listenmandaten. Weil sie den föderalen Proporz verletzt, provoziert sie heftige parteiinterne Widerstände. Warum sollte Landesverband A mit eigenen Listenmandaten dafür bluten, dass Landesverband B in seinem Wahlgebiet Überhangmandate erzielt hat?

Der Koalitionsentwurf umgeht diese Schwierigkeiten, indem er die Überhänge mit den Direktmandaten selbst verrechnet. Nur so viele Mandate werden vergeben, wie einer Partei gemäß ihrem Hauptstimmenergebnis tatsächlich zustehen. Gibt es Überhänge, dann fallen die Direktmandate mit den geringsten Stimmenanteilen weg. Sie werden also nicht besetzt, obwohl der Bewerber oder die Bewerberin im Wahlkreis die meisten Stimmen erzielt und ihn damit „gewonnen“ hat.

Für die Gegner des Entwurfs liegt hier der größte Stein des Anstoßes. Wer gewonnen hat, sollte damit auch gewählt sein, das heißt das Mandat bekommen. Außerdem rügen sie, dass es bei einer Nichtvergabe von Direktmandaten zu „verwaisten“ Wahlkreisen komme, die durch keinen Abgeordneten mehr vertreten seien. Beide Argumente stehen auf schwachen Füßen. Bei der Nichtvergabe direkt gewonnener Wahlkreise muss berücksichtigt werden, dass im heutigen Sechsparteiensystem manchmal schon 20 Prozent der Stimmen genügen, um die relative Mehrheit zu erzielen. Eine starke demokratische Legitimation ist das nicht. Und das Problem der verwaisten Wahlkreise ist überschaubar, weil diese ja nicht nur von den direkt gewählten, sondern auch von den über die Liste ins Parlament gekommenen Abgeordneten vertreten werden. Sichern die Parteien in den von „Verwaisung“ bedrohten Wahlkreisen ihre Bewerber mit sicheren Listenplätzen gezielt ab, könnte man das Problem noch weiter reduzieren.

An der Verfassungsgemäßheit des Entwurfs – wenn man ihn sorgfältig begründet – bestehen wenig Zweifel. Dies gilt umso mehr, als vergleichbare Regelungen im Landtagswahlrecht, etwa in Bayern oder Baden-Württemberg, niemals beanstandet worden sind. Zwei Wermutstropfen bleiben allerdings: Zum einen möchte die Ampel an der sogenannten Grundmandatsklausel festhalten. Diese nimmt Parteien von der Fünfprozenthürde aus, wenn sie ersatzweise drei Direktmandate gewinnen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Zulässigkeit dieser Ausnahmeregelung bisher nicht moniert, obwohl sie mit Blick auf den Gleichheitsgrundsatz kaum zu rechtfertigen ist. Dass die Ampel an ihr nicht rütteln will, liegt vor allem an der Linkspartei, die von der Klausel am stärksten profitiert und deren Zustimmung zu dem Gesetzentwurf man gerne erhalten würde.

Ob man auch die größte Oppositionspartei – die CDU/CSU – zur Zustimmung bewegen kann, ist dagegen fraglich – hier liegt der zweite Wermutstropfen. Änderungen im Wahlsystem können mit einfacher Mehrheit beschlossen werden, sie sollten es aber nicht. Das Einvernehmen mit der Opposition bleibt wichtig, um den Verdacht gar nicht erst aufkommen zu lassen, die Regierungsseite wolle diese in ihren Wettbewerbschancen benachteiligen. Die Union muss sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, genau das getan zu haben, als sie selbst an der Regierung war. Auch ihre jetzt und schon zuvor während der Kommissionsberatungen gemachten Gegenvorschläge zeugen nicht gerade von Fairness. Die Abkehr vom Proporz, die die Einführung eines Grabenwahlsystems (das die von ihr bestellten Sachverständigen in der Kommission ins Spiel gebracht haben) oder die Zulassung von 15 nicht auszugleichenden Überhangmandaten bedeuten würde, ist ausschließlich von Eigeninteressen diktiert und verlässt den seit 2013 eingeschlagenen Konsenspfad. Bewegen sich CDU und CSU auf diesen Pfad nicht zurück, wäre es durchaus legitim, die Reform auch gegen ihren Willen zu betreiben und eine Verfassungsklage, die die CSU bereits angekündigt hat, in Kauf zu nehmen.

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