Wladimir Putin gilt als strategisch denkender Politiker, der Risiken abwägt und seine Interessen nüchtern kalkuliert. Doch sein Handeln lässt sich nicht allein mit politischer Rationalität erklären. Putin versteht sich zunehmend auch als historischer Akteur – in der Nachfolge von Zaren wie Peter dem Großen oder Katharina II. Seine Politik ist durchzogen von einem Geschichtsbild, das nicht nur die Sowjetzeit, sondern vor allem das vorrevolutionäre Zarenreich verklärt. Im Zentrum dieses Narrativs steht die Idee, verlorene „russische Erde“ zurückzuholen – eine Vorstellung, die der Annexion der Krim 2014 eine tiefere symbolische Bedeutung verlieh.
Die Krim als Bühne historischer Selbstinszenierung
Putins Rede vor der Föderalversammlung nach der Annexion der Krim verklärte die Halbinsel zum spirituellen Ursprung russischer Identität. Der Ort der Taufe von Wladimir dem Heiligen wurde zum sakralen Bezugspunkt erklärt – vergleichbar dem Tempelberg in Jerusalem. Die populistische Parole „Krym naš“ (Die Krim gehört uns) mobilisierte nationale Emotionen. Umfragen zeigten, dass viele Russen den Krim-Anschluss als größte Leistung ihres Landes bewerteten – noch vor Raumfahrt und Literatur. Diese Zustimmung verdankte sich auch einer geschickten historischen Mythologisierung.
Die historische Realität: Vielschichtig, multikulturell, umkämpft
Historisch gesehen war die Krim nie „ur-russisch“. Erst 1783 annektierte Katharina II. die Halbinsel vom Osmanischen Reich. Die Krim war damals mehrheitlich von Krimtataren bewohnt. Die Ansiedlung von Russen und Ukrainern begann verstärkt erst nach dem Krimkrieg im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert führte Stalin zur ethnischen Säuberung durch Deportationen und Genozid – etwa an den Juden und Krimtataren. Die Halbinsel wurde systematisch „russifiziert“.
Eine Zäsur war das Jahr 1954, als die Krim von der Russischen an die Ukrainische Sowjetrepublik überging – ein symbolisches Geschenk zum 300-jährigen „Bruderschluss“ zwischen Russen und Ukrainern. Der sowjetische Kontext machte diesen Schritt möglich: Der Staatsapparat war zentralistisch und supranational. Dass dieses Geschenk Jahrzehnte später als geopolitisches Problem zurückkommen würde, war damals unvorstellbar.
Die sowjetische Übergabe 1954 – pragmatisch oder politisch?
Die Gründe für die Übergabe der Krim sind bis heute nicht abschließend geklärt. Einige Erklärungsansätze:
- Geografie: Die Krim war auf dem Landweg nur über die Ukraine erreichbar.
- Wiederaufbaukosten: Die Krim war nach dem Krieg schwer zerstört – die Kosten gingen nach 1954 an die Ukraine.
- Symbolpolitik: Die supranationale Idee der Sowjetunion sollte gestärkt, ukrainisch-russische Spannungen entschärft werden.
Die These, dass Chruščëv aus „ukrainischer Sympathie“ handelte, greift zu kurz. Er hatte 1954 noch nicht die Macht, solch eine Entscheidung allein zu treffen. Der Transfer war ein symbolpolitischer Akt – und aus heutiger Sicht ein strategischer Bumerang.
Die Rückkehr der Krim in Putins Russland
Die Annexion 2014 war eine historisch aufgeladene Rückeroberung. Der Bezug zur zaristischen Geschichte, zur russischen Identität und zur imperialen Größe war zentral. Russland stellte sich als Erbe der Kiewer Rus dar, wobei die historische Vielschichtigkeit der Region bewusst ausgeblendet wurde. Mit dem Zerfall der Sowjetunion war die Krim plötzlich „Ausland“ – ein Zustand, den Putin revidieren wollte.
Die emotionale Logik der Krim – und das strategische Kalkül
Putins Krim-Politik vereint zwei Ebenen:
- Politische Rationalität: Kontrolle über den Flottenstützpunkt in Sewastopol, geopolitische Einflussnahme.
- Historische Inszenierung: Rückholung verlorener russischer Identität, Nation-Building durch Geschichte.
Diese Mischung wirkte – zumindest kurzfristig. Die Zustimmung in Russland war hoch. Doch die westliche Reaktion – Sanktionen, Isolation – wurde möglicherweise unterschätzt.
Neue Konflikte – weniger symbolischer Ertrag
Mit dem Krieg gegen die Ukraine 2022/23 setzte Russland erneut auf Annexion. Doch anders als 2014 fehlt diesmal der symbolische Überbau. Die Regionen Donezk und Luhansk bieten wenig identitätsstiftende Wirkung für die russische Öffentlichkeit. Eine Eroberung Kiews wäre zwar historisch aufgeladen, doch militärisch riskant – und politisch kaum durchzusetzen.
Putins Strategie gerät in Widerspruch: Der „historische Akteur“ hat keine überzeugende Geschichte mehr zu erzählen, und der politische Akteur riskiert eine militärische und ökonomische Überdehnung. Die Geschichtspolitik, die bei der Krim funktionierte, greift im großen Krieg gegen die Ukraine nicht mehr.
Fazit: Der Widerspruch des „historischen Präsidenten“
Wladimir Putin hat sich mit der Krim einen symbolischen Triumph verschafft, der Politik und Geschichte vereinte. Doch diese Logik lässt sich nicht beliebig wiederholen. Der Krieg gegen die Ukraine offenbart die Grenzen einer Strategie, die sich zu stark auf Mythos und Vergangenheit stützt. Die Risiken sind heute höher, der historische Ertrag ungewiss. Und vielleicht zeigt sich genau hier, dass Geschichte eben nicht einfach wiederholbar ist – selbst nicht für einen Präsidenten, der sie schreiben will.