Hölle und Himmel

75 Jahre Vereinte Nationen: Hehre Ziele und eine Unzahl von Problemen

20
09
PICTURE ALLIANCE
20
09
PICTURE ALLIANCE

Hölle und Himmel

75 Jahre Vereinte Nationen: Hehre Ziele und eine Unzahl von Problemen

Vor einem Dreivierteljahrhundert trat die Charta der United Nations (UN) in Kraft: die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, der Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit waren – und sind bis heute – deren vorrangige Ziele.

Aktuell wirken UN-Blauhelme in 13 Ländern friedenserhaltend: von der indisch-pakistanischen Grenze über den Kosovo bis zu den Golanhöhen, der Westsahara und Zypern. Nicht immer erfolgreich.

Der Schwede Dag Hammarskjöld, von 1953 bis 1961 ihr zweiter Generalsekretär, hatte den Auftrag der Organisation auf die Formel gebracht: „Die UN sind nicht gegründet worden, um die Menschen in den Himmel zu bringen, sondern um die Menschen vor der Hölle zu retten“.

Die Vereinten Nationen blicken auf positive Ergebnisse zurück. Aber sie konnten weder Kriege noch Armut endgültig stoppen. Etwa 260 Kriege gab es seit Gründung. Mehr und mehr nichtstaatliche Akteure versuchen mit Waffengewalt, ihre ideologischen Ziele durchzusetzen. Die Vereinten Nationen reagieren mit Appellen und Verurteilungen, selten mit gemeinsamen Aktionen, obwohl die Charta das vorsieht. Weder wirtschaftliche Ungleichheit noch Ungerechtigkeit der Geschlechter wurden überwunden.

Mit der weltweiten Covid-19-Pandemie zeigt sich in der UN erneut deren Problem, zu einem gemeinsamem Handeln zu finden. UN-Generalsekretär António Guterres forderte im März angesichts des Ausmaßes der Krise einen sofortigen weltweiten Waffenstillstand. Der einstige portugiesische Premier bezeichnet die Covid-19-Pandemie als die größte globale Bedrohung der Sicherheit.

Doch die UN spielen bisher eine geringe Rolle bei deren Bekämpfung. Bereits heute sind 51 Prozent aller möglicherweise verfügbaren Impfstoffe von den USA, Großbritannien, Japan und einigen Europäern vom Markt weggekauft, bevor sie überhaupt zugelassen sind. Guterres’ Appelle, den Impfstoff für alle verfügbar zu machen, sind bisher verpufft. Die Pandemie führte zu einem weltweiten Einbruch der Wirtschaft, der die Ärmsten am stärksten trifft. Die UNO verspricht derweil, sie werde gestärkt aus der Krise hervorgehen – es ist jedoch gänzlich unklar, wie dies konkret gelingen soll.

Auf der Tagesordnung des Gipfels der kommenden zwei Wochen stehen neben dem Kampf gegen das Virus auch der Klimawandel, Biodiversität und die Reform der Vereinten Nationen. Das meiste wird virtuell ablaufen, Bundeskanzlerin Angela Merkel zu mehreren Themen Videos schicken.

Die Konflikte bestehen weiter: Jemen, Syrien, Libyen, Südsudan, Kongo stehen als besonders blutige Beispiele für Kriege, welche die UN bisher nicht beenden konnte. Die Charta der UN vom 26. Juni 1945 forderte, die „Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren […] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau, sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen“. Diese Forderungen gilt es nach wie vor zu verwirklichen und das ist 2021 schwieriger als je zuvor. Die 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungsziele bis 2030 zu realisieren, ist durch die Pandemie kaum mehr möglich. Armut und Ungerechtigkeit nehmen wieder zu. Die Geburtstagsversammlung will vor allem den Stopp des Klimawandels und die Bekämpfung der Armut in den Mittelpunkt stellen.

Dies alles angesichts der immer größeren Schwierigkeiten, gemeinsam zu handeln. Der Multilateralismus ist in den vergangenen Jahren unter die Räder gekommen. Mit Staats- und Regierungschefs wie Xi Jinping, Wladimir Putin, Jair Bolsonaro, Narendra Modi, Rodrigo Duterte und Donald Trump ist ein neuer Nationalismus gewachsen, der auch in Europa seine Nachahmer gefunden hat. In Europa muss man mindestens Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński, Bojko Borrisow und Boris Johnson dazuzählen, die sich mit allen Mitteln bemühen, ihre Macht zu festigen und auszubauen – teils auf Kosten von rechtsverbindlichen Verträgen, teils durch den Bruch von Prinzipien, die die Demokratie ausmachen.

Und in allen Fällen stehen die UN machtlos da.

Nach fast vier Jahren Trump-Regierung in den USA, langen Jahren der Regierung von Xi Jinping und Putin ist der Sicherheitsrat durch die gegenseitige Blockade von drei der fünf ständigen Mitglieder nahezu aktionsunfähig. Trump hat im März 2018 das Wiener Iran-Abkommen von 2015 aufgekündigt, das Iran vom Bau einer Atombombe abbringen sollte. Wirksam wird der Ausstieg ausgerechnet am 20. September. Der US-Präsident will jene Sanktionen wieder einführen, die nach Verabschiedung des Deals per Sicherheitsratsbeschluss aufgehoben worden waren.

China, Russland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland stimmten dem Antrag der amerikanischen Regierung im Sicherheitsrat nicht zu. Dennoch wird die Wiedereinführung der scharfen Sanktionen Iran noch weiter von der Welt isolieren.

Gegen die nationalistischen Alleingänge gründeten vor zwei Jahren Deutschland und Frankreich die Allianz zur Stärkung des Multilateralismus. 65 der 193 Mitgliedsstaaten der UN machen mit. Den Vereinten Nationen wäre ein zweiter Frühling zu wünschen – zu befürchten ist allerdings, dass der gegenwärtige Winter anhält.

Weitere Artikel dieser Ausgabe