Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
In der vergangenen Woche erreichten Deutschland überraschende Nachrichten aus dem Nahen und Fernen Osten. Im Iran hat sich die islamische Regierung offenbar entschlossen, die in der Bevölkerung so verhasste Sittenpolizei aufzulösen. Ob damit allerdings auch das Kopftuchgebot fällt, ist noch nicht ausgemacht. Derweil hat sich die chinesische Staatsführung dazu durchgerungen, die drakonischen Maßnahmen ihrer gescheiterten Null-Covid-Politik zu lockern. Ein bisschen zumindest. Erreicht hat das jeweils eine Bevölkerung, die sich – bewundernswert mutig – ihren autoritären Regimen entgegenstellt. In beiden Ländern konfrontierten die Protestierenden ihre Staatsführung mit unzähligen spontanen, punktuellen und gerade deshalb unberechenbaren Aktionen. Ob die politischen Zugeständnisse diese Widerstände beruhigen oder beflügeln, ist nicht vorherzusagen.
Die Reaktionen des Westens lassen bei solchen Nachrichten gleichwohl nie lange auf sich warten: Sie münden in der hoffnungsvollen Frage, ob die seit Jahrzehnten so rigiden Systeme inzwischen nicht an ihre Grenzen kommen. Mehr noch: ob diese mit immer härteren Zugriffen auch auf das Privatleben der Bevölkerung ihrer Abschaffung auf Dauer nicht sogar Vorschub leisten. Diesmal aber ist es anders, heißt es dann mit Blick auf die öffentlich geäußerte Wut. Mag sein oder auch nicht, aus dem Ausland oder lediglich den iranischen oder chinesischen Metropolen ist die Lage im gesamten Land jeweils nur schwer zu beurteilen.
Genau das lässt Raum für das Prinzip Hoffnung, das so manch sachlichen Blick vereitelt. Jenen zum Beispiel, wie sich die Zahl der Kritiker eines Regimes zu der der Verzagten, der Dulder oder gar seiner Verfechter in der Bevölkerung verhält. Die Hoffnung lässt sich so leicht eben nicht unterkriegen, genährt durch den tiefen Wunsch, dass sich Gesellschaften nach den Grundprinzipien einer demokratischen Postmoderne befreien mögen.
Genau hierin findet die Hoffnung ihre Schattenseite – als zutiefst ambivalente Grundemotion, die permanent gefüttert werden will und schon deshalb dazu verführt, ein jedes Detail allzu positiv zu deuten. Andernfalls würde sie versiegen. Dass sich daraus unzählige Fehleinschätzungen ergeben, nicht nur im Privaten, gerade auch im Politischen, ist durch die Wirklichkeit verbürgt: Die monatelangen Proteste auf dem Platz den Himmlischen Friedens in Peking 1989 hatten keinen Erfolg, sie endeten in einem Blutbad. Die grüne Widerstandsbewegung im Iran ist nicht zur Revolution mutiert. Aus den Ländern, die einst in den Arabischen Frühling aufbrachen und darin vom Westen aus sicherer Entfernung so hoffnungsfroh über die Fernsehschirme begleitet wurden, sind weitgehend keine freiheitlich demokratischen Staatsgebilde hervorgegangen. Durch die von dem augenscheinlichen Veränderungsmomentum ausgehende Faszination und die Hoffnung auf einen nach westlichen Maßstäben so wünschenswerten Ausgang nahm sich die Beurteilung der Geschehnisse damals noch sehr anders aus als heute im Rückblick.
Kann es sein, dass der Westen der Hoffnung immer wieder in die Falle geht und gesellschaftliche Beharrungskräfte übersieht, die noch viel größer sind als die autoritären Regierungsapparate selbst?