Versuch über die Geschichtsvergessenheit in Zeiten von Corona
Versuch über die Geschichtsvergessenheit in Zeiten von Corona
Diktatur, Faschismus, Josef Mengele, „Judensterne“, Anne Frank, „Wir sind das Volk“-Rufe: Seit Monaten gehen Menschen auf die Straßen deutscher Städte, um gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung des Corona-Virus zu demonstrieren, und sie bedienen sich dabei derart unverhältnismäßig historischer Vergleiche, Begriffe, Personen und Symbole, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, dieser Geschichtsvergessenheit etwas entgegenzusetzen. Trotzdem: ein Versuch.
Immer wieder vergleichen Männer und Frauen auf diesen Demonstration die Maßnahmen der Regierung zum Schutz der Bevölkerung vor einem gefährlichen Virus mit den Terrormaßnahmen des Nazi-Regimes gegen die jüdische Bevölkerung. Sie heften sich gelbe Sterne an, auf denen „Nicht geimpft“ steht, tragen in Anlehnung an die Kennzeichnungspflicht für Juden Armbinden oder halten Schilder hoch, auf denen zu lesen ist: „Ich bin ein Covid-Jud“. So gesehen 2020 in verschiedenen deutschen Städten.
Seit September 1941 waren Juden im Deutschen Reich gezwungen, sich mit einem gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ zu kennzeichnen. Für zehn Pfennig war der Stern zu erwerben und auf der linken Brust anzunähen. Der Romanist Victor Klemperer notiert in Dresden in sein Tagebuch, dies sei „Umwälzung und Katastrophe“, er werde das Haus von nun an nur noch „bei Dunkelheit auf ein paar Minuten verlassen“. Klemperer traut sich nicht mehr auf die Straße, gekennzeichnet mit diesem Stern und dadurch potenziell Anfeindungen und Gewalt ausgesetzt. In den folgenden Wochen, eingesperrt im „Judenhaus“, notiert er immer wieder seine Sorge vor einer möglichen Deportation „nach Osten“, ins Ungewisse, für die meisten, wie sich herausstellt: in den Tod.
Lucille Eichengreen, die damals noch Cecilie Landau hieß, lebte in Hamburg. Die Asche ihres Vaters hatte die Familie Anfang 1941 in einer Zigarrenkiste von einem Gestapo-Beamten überreicht bekommen, so erinnert sie sich daran nach dem Krieg. Er war im Konzentrationslager Dachau gestorben. Über die Einführung der Kennzeichnungspflicht schreibt die damals 16-Jährige in ihren Erinnerungen: „Von jetzt an waren wir noch leichter als Opfer für Schläge, Verhöhnung und jede Art von Schikanen auf der Straße zu erkennen.“ Wenig später wird sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester ins Getto Litzmannstadt (Lodz) deportiert, diesen „Krepierwinkel Europas“, wie der ebenfalls dorthin verschleppte Wiener Schriftsteller Oskar Rosenfeld das Getto nennt. Dort stirbt im Folgejahr zunächst ihre Mutter völlig entkräftet, dann wird ihre Schwester im September 1942 gemeinsam mit fast 16.000 weiteren Kindern unter zehn und alten Menschen über 65 Jahren in die Vernichtungsstätte Kulmhof deportiert und dort vergast. Cecilie überlebt. Allein.
Ernsthaft, Ihr Demonstrierenden in Deutschland im Jahr 2020, damit vergleicht Ihr Euch?
Es gibt auf den Kundgebungen auch Schilder: „Anne Frank wäre bei uns. Nie wieder Diktatur!“ Anne Frank lebte zwei Jahre lang versteckt in einem Amsterdamer Hinterhaus, um dem Tod zu entgehen. Sie schreibt dort im September 1942, dem Monat, in dem die Schwester von Cecilie Landau weiter östlich im deutschen Machtbereich ermordet wird, in ihr Tagebuch: „Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals hinaus dürfen, und ich habe große Angst, dass wir entdeckt werden und dann erschossen werden.“ Anne Frank will Schriftstellerin werden, ihr Tagebuch zeigt, dass sie großes Talent dazu hat. Sie hat Träume und Wünsche für ihr Leben nach dem Versteck: „Ich werde in der Welt und für die Menschen arbeiten.“ Im Sommer 1944 schreibt sie hoffnungsvoll über die Landung der Alliierten in der Normandie. Dann wird ihr Versteck entdeckt, beide untergetauchten Familien werden noch im September 1944 nach Auschwitz deportiert. Von dort wird Anne ins Konzentrationslager Bergen-Belsen verschleppt, wo sie, vermutlich im Februar 1945, elendig stirbt und in einem Massengrab verscharrt wird.
Mit dieser Anne Frank und ihrem Schicksal versucht Ihr auf Euren Plakaten eine Verbindung herzustellen, Ihr Demonstrierenden in Deutschland im Jahr 2020?
Es gibt auf den Kundgebungen Plakate, auf denen zu lesen ist: „Impfen macht frei“, in Anlehnung an das berüchtigte Tor im Stammlager von Auschwitz, über dem steht: „Arbeit macht frei“. Der Virologe Christian Drosten, durch dessen Forschung und Empfehlungen uns die Erfahrungen beispielsweise von Italien und Spanien in diesem Frühjahr weitgehend erspart geblieben sind, wird auf einem Plakat gemeinsam dargestellt mit Josef Mengele. Mengele: Das ist der SS-Arzt, der für seine menschenverachtenden medizinischen Experimente in Auschwitz berüchtigt ist, die für die meisten Häftlinge mit dem Tod endeten. Mengele ist für viele Überlebende der Inbegriff des Grauens, für das Auschwitz-Birkenau steht, auch da er teilweise an der Rampe in Birkenau die Opfer selektierte und direkt in die Gaskammern schickte.
Diese Vergleiche sind geschmacklos, widerlich und – bestenfalls – ignorant. Sie verhöhnen die Opfer. Der Holocaust wird relativiert und verharmlost. Er wird auf eine unerträgliche Art und Weise benutzt und bagatellisiert und die Erinnerung an die Opfer des Massenmords missbraucht. Für Überlebende des Holocaust sind diese Vergleiche kaum zu ertragen.
Und nicht nur für die, und damit komme ich zum letzten Punkt. Ausgerechnet in Leipzig, ausgerechnet im November, marschierte kürzlich eine rücksichtslose Menschenmenge, mitten drin auch Rechtsradikale und Hooligans, die Journalisten angriffen, durch die Straßen und brüllte: „Wir sind das Volk!“ Dieser Versuch, sich in eine direkte Linie mit der Freiheitsbewegung von 1989 zu stellen und zu suggerieren, genauso mutig gegen die „Merkel-Diktatur“ (noch so ein Begriff!) aufzustehen, dieser Versuch ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die damals die Courage hatten, gegen das DDR-Regime auf die Straße zu gehen, mit sehr ungewissem Ausgang für jeden Einzelnen von ihnen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist weder eine faschistische noch eine kommunistische Diktatur, egal, wie oft dies auf den Demonstrationen behauptet wird, sondern eine freiheitliche Demokratie. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass diese Demonstrierenden sich eine Markierung wie den Stern anheften können, ohne befürchten zu müssen, auf der Straße angefeindet, angespuckt, geschlagen oder deportiert zu werden. Dies zeigt sich daran, dass all diese Menschen da draußen überhaupt zusammenkommen und ihre Meinung, egal wie krude diese ist, sagen dürfen, ohne am nächsten Morgen in einer Gefängniszelle oder – je nach Vergleich – Lagerbaracke aufzuwachen. Wer diesen Unterschied nicht sieht oder ihn wissentlich ignoriert, verharmlost die deutschen Diktaturen und verhöhnt ihre zahllosen Opfer.