Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Die Aktienmärkte haussieren. Die Krisenstimmung ist verschwunden, die Welt der Finanzmärkte nach den scharfen Einbrüchen im Frühjahr wieder in Ordnung. Und das – bemerkenswerterweise – auch noch in einer Zeit, in der die Pandemie alles andere als unter Kontrolle und die Erholung der Volkswirtschaften noch überhaupt nicht sicher ist.
Gleichwohl lässt sich die Entwicklung an den Aktienmärkten begründen: etwa mit wachsenden Unternehmensgewinnen bis zum Beginn der Krise oder mit dem historischen Faktum, dass Bullenmärkte – von Zäsuren abgesehen – im Durchschnitt nun mal über 25 Jahre laufen. Wichtigster Treiber aber ist das Geld, unendlich viel Geld, das die Notenbanken und Regierungen derzeit in die von Lockdowns gestressten Volkswirtschaften und damit in die Märkte pumpen.
Zumindest an den Aktienmärkten scheint diese Strategie der Krisenbewältigung zu funktionieren. Vermögen, die durch die Kurseinbrüche im Frühjahr vernichtet wurden, sind inzwischen wieder entstanden. Nur, was sich auf den ersten Blick nach 2008 erneut als veritabler Erfolg von Regierungshandeln und Zentralbankinterventionen deuten ließe, erweist sich auf den zweiten als problematisch: Die Liquiditätsschwemme geht schließlich mit der Abschaffung der zentralen volkswirtschaftlichen Referenzgröße einher, des Zinses. Wenn es für Geld keinen Zins mehr gibt, hat das Verteilungswirkungen, die gerade in den Momenten einer Hausse von Aktien und Immobilien augenfällig werden: Die Vermögenden werden reicher, während Millionen in Kurzarbeit noch nicht einmal mehr sparen können.
Von einer Welt ohne Zinsen haben schon viele geträumt: darunter Philosophen, Religionsführer, sogar Ökonomen wie Karl Marx. Dabei haben sie stets als ungerecht empfunden, dass sich mit dem Verleihen von Geld anstrengungslos noch mehr Geld machen lässt.
Seit zehn Jahren haben die Notenbanken in den beiden großen Blöcken der kapitalistischen Welt den Zins faktisch abgeschafft – und ausgerechnet mit „Freigeld“ eine Welt kreiert, die ungerechter nicht sein könnte. Nicht nur, dass wenige vermögende Sparer keine Chance haben, ihr kleines Geld sicher zu mehren. Vielmehr nährt die Liquidität die Hausse in Vermögensklassen wie Aktien oder Immobilien, in die der wenig vermögende Normalbürger erst gar nicht investiert. Dass sich dessen Bilanz im Verschuldungsfalle in Nullzinsphasen bessert, tut dabei kaum etwas zur Sache. Billiges Geld wird schließlich nur bei optimalen Sicherheiten ausgegeben. Das heißt: Eine steigende Vermögensungleichheit verhindert die Abwesenheit von Zinsen gerade nicht, im Gegenteil. Nach zehn Jahren Nullzinspolitik hat sich die schöne Gerechtigkeits-Utopie der Zinskritiker als Illusion entpuppt.