Im Osten nichts Neues?

Die Visegrád-Connection könnte die europäische Union entgleisen lassen

24
10
ZB/EUROLUFTBILD.DE
Wo es begann: Visegrád, nördlich von Budapest
24
10
ZB/EUROLUFTBILD.DE
Wo es begann: Visegrád, nördlich von Budapest

Im Osten nichts Neues?

Die Visegrád-Connection könnte die europäische Union entgleisen lassen

Die polnische Regierung setzt willfährige Richter ein und verletzt permanent EU-Recht, in Tschechien droht Staatspräsident Miloš Zeman, Wahlverlierer Andrej Babiš an der Macht zu halten, in der Slowakei steht der Chef der Notenbank und EZB-Ratsmitglied Peter Kažimír unter Korruptionsverdacht, und Slowenien hat unter Premier Janez Janša eine rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklung der „Orbánisierung“ eingeleitet.

Aber merken wir uns (ganz einfach) Hódmezővásárhely, den Namen der kleinen Stadt in Südungarn, wo sich Péter Márki-Zay 2018 bei einer Bürgermeister-Nachwahl in der von der Regierungspartei Fidesz beherrschten Hochburg durchgesetzt hat und nun als gemeinsamer Spitzenkandidat der Opposition für die Parlamentswahl im April antritt.

Alles weit weg? Keineswegs. Die nicht immer schleichende, sondern oft schon rasante Verwandlung der nach 1989/90 geschaffenen „neuen Demokratien“ Ostmitteleuropas in Wahlautokratien oder „Demokraturen“ müssen Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union als „tua res agitur“, als ureigenes innenpolitisches Problem begreifen, das den brüchigen Wertekonsens angreift und die Demokratie auszehren kann. Nach V-Dem (Variety of Democracy-Projekt der Universität Göteborg) war Polen 2021 das Land mit der weltweit am schnellsten fortschreitenden Entdemokratisierung, noch vor Ungarn, der Türkei, Brasilien, Serbien und Benin. Dieser Prozess vollzog sich „mit Ansage“.

Doch zunächst ein Blick zurück. Am 15. Februar 1991 trafen sich im ungarischen Visegrád, einer Donaustadt nördlich von Budapest mit József Antall, Lech Wałęsa und Václav Havel die drei Staatsoberhäupter der (damals noch vereinten) Tschechoslowakei, Polens und Ungarns, und vereinbarten, die nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs auftretenden Probleme der Transition gemeinsam lösen zu wollen. Und sie wollten das Gewicht ihrer Länder in den Wirtschafts- und Militärbündnissen zur Geltung bringen, in welche diese Nationen mit Eifer drängten. Zu Ende des Jahrzehnts traten Polen, Tschechien und Ungarn der Nato bei, die Slowakei (seit 1993 unabhängig) 2004; im gleichen Jahr wurden alle vier Staaten Mitglieder der Europäischen Union (EU).

Mit dieser doppelten Osterweiterung schien der Traum der Verwestlichung vieler Protagonisten der politischen Opposition in Erfüllung zu gehen, da sie sich zum einen von der Demokratie individuellen Wohlstand und kollektive Sicherheit erhofften, zum anderen „Ostmitteleuropas“ Nationen den gebührenden Rang in der Gemeinschaft der demokratischen Völker zurückzugeben. Jalta – der historische Name für die Teilung Europas in einen privilegierten, reichen Westen und einen in realsozialistischer Misere versinkenden armen Osten – sollte endlich Geschichte sein.

Das informelle Bündnis von 1991, kurz die Visegrád Four (V4), war anfangs nicht mehr als eine schwache Koalition heterogener Staaten, die sich in ihrer jüngeren Vergangenheit keineswegs immer einig gewesen waren. In der Verbindung steckte aufgrund der imperialen Grenzziehungen im 19. und 20. Jahrhundert zudem viel historischer Zündstoff. Ungarn kokettiert offen mit der Revision des Trianon-Vertrags von 1920, mit dem es große Territorien an die Nachbarländer abgeben musste.

Heute ist die Visegrád-Gruppe, wie sie offiziell heißt, eine kaum noch zu umgehende Formation und im Übrigen ein markantes Beispiel (beziehungsweise Vorbild) für eine EU der „verschiedenen Geschwindigkeiten“. Motor ist hier die strikte Opposition gegen die Migrations- und Asylpolitik der westlichen Mitglieder der Gemeinschaft und insbesondere gegen jede (weitere) Abgabe nationalstaatlicher Souveränität an „Brüssel“, was im Grunde eine Chiffre für den Anspruch auf freie Fahrt beim Aufbau von Demokraturen ist, die sich jegliche Kritik aus der EU verbietet. Das bezieht im sogenannten „Austerlitz-Format“ zeitweise auch Österreich ein – in ein mitteleuropäisches Binnenbündnis auf dem Gebiet der ehemaligen k. u. k. Habsburger-Monarchie, das in EU-Verhandlungen zunehmend als „Vetospieler“ agiert.


Flaggen zeigen: Polens Mateusz Morawiecki und Ungarns Victor Orbán beim Visegrád-Gipfel im Juni in Katowice.



Der ungenierteste Verfechter dieser Binnenopposition, Ungarns Premier Viktor Orbán, prophezeite 2017 in einer Rede: „Vor 27 Jahren haben wir Mitteleuropäer geglaubt, dass Europa unsere Zukunft ist. Heute spüren wir, dass wir die Zukunft Europas sind.“ Es handelt sich dabei keinesfalls um eine Exit-Option: Kein Visegrád-Staat bereitet den EU-Austritt vor. Es geht vielmehr um eine andere Union – eher Staatenbund als Bundesstaat, nationale Souveränität statt transnationaler Vergemeinschaftung, Autokratie statt liberaler Demokratie. Auch in Polen, wo die regierende Rechte den „Polexit“ androht, bejaht das Gros ihrer Wählerschaft und des polnischen Volkes insgesamt den EU-Austritt nicht. Trotzdem spielt die PiS-Regierung gern mit der Angstvorstellung eines „Polexit“, um die EU unter Druck zu setzen, mit dem Wissen, dass die Organisation einen weiteren Exit nach Großbritannien unbedingt verhindern möchte. Ein „Polexit“ würde nicht nur das Image der EU weiter strapazieren, sondern auch Wirtschaftsinteressen vieler Länder, vor allem Deutschlands, tangieren.

Wag the Dog? Dass der Schwanz mit dem Hund wedelt, definieren englische Lexika für den Fall, dass ein kleiner, vermeintlich unbedeutender Teil von etwas immer wichtiger wird und am Ende das Ganze kontrolliert. Dieser Anspruch bezeugt nicht nur das gewachsene Selbstbewusstsein des zweimal (2014 und 2018) im Amt bestätigten ungarischen Ministerpräsidenten, er ist auch als erpresserische Drohung zu verstehen, sollte sich die EU weiter in eine säkulare, für Flüchtlinge offene Staatengemeinschaft entwickeln. Dagegen steht der einstmals liberale Orbán als Repräsentant aller V4-Nationen für ein christliches Europa der Vaterländer, ein neues Abendland, das sich nach außen vor allem gegen muslimische Migranten abschottet und offensiv die Variante einer „illiberalen Demokratie“ verficht. Orbán ist ja nicht zufällig der spiritus rector einer antisemitischen Kampagne gegen den als Kind aus Ungarn vertriebenen US-Philanthropen George Soros, der in der spätkommunistischen Zeit ironischerweise zu den ersten Förderern des als politisches Naturtalent gehandelten Orbán gezählt hatte. Soros gilt als „Globalist“, als entwurzelter Kosmopolit – ein paranoides Zerrbild, das mit dem auch in anderen Visegrád-Staaten zum Teil noch virulenten Judenhass korrespondiert.

Ungarn ist das autoritäre Vorbild für viele Staaten in der Region geworden. Während Polen die orbánesque Staatsvereinnahmung durch die Fidesz-Partei weitgehend imitiert, übernimmt Slowenien unter Janez Janša mit Inbrunst das Feindbild Soros. Warum nach neuen hassstimulierenden Identitätstechnologien suchen, wenn die gut bewährten zur Verfügung stehen?

Es gibt keinen Grund, Orbán und Co. zu unterschätzen, aber man darf sie auch nicht überhöhen. Die von uns so genannte „Visegrád-Connection“ ist oft nur Fassade, das dahinterstehende sozioökonomische Gefälle, die historischen Spannungen und aktuellen Differenzen sind erheblich. Unterschiede bestehen zudem im Verhältnis zu Russland, in der Bewältigung der Corona-Pandemie und in der Haltung zur krisengeschüttelten Nachbarschaft (Belarus, Ukraine, Transnistrien). Ein brisantes Beispiel ist der polnisch-tschechische Konflikt um den Braunkohlebau Turów an der polnisch-tschechisch-deutschen Grenze. Im März 2021 zog Tschechien vor den Europäischen Gerichtshof mit einer Beschwerde, denn der Bergbau in Turów gefährdet die Trinkwasserversorgung in Liberec auf der tschechischen Seite. Der EuGH verhängte finanzielle Strafen gegen Polen, woraufhin die PiS-Politiker mit Vergeltungsmaßnahmen gegen Tschechien für den „Verrat“ an Polen drohten. So viel zur inneren Einigkeit und Kooperation in V4.

Es gibt viele offene Fragen: Sitzen die Machthaber tatsächlich so fest im Sattel, wie es die präpotenten Männerrunden in Visegrád und andernorts suggerieren sollen? Kann eine Internationale identitärer Nationalismen überhaupt funktionieren? Ist die Opposition wirklich so ohnmächtig, dass ein friedlicher Machtwechsel bei den in der ersten Hälfte der 2020er-Jahre anstehenden Wahlen aussichtslos ist?

Aus den V4-Staaten kommen derzeit ganz unterschiedliche Nachrichten. Während die PiS-Regierung den europäischen Institutionen zum wiederholten Male den Fehdehandschuh hinwirft und offen mit dem Austritt der fünftgrößten, derzeit noch wachstumsstarken Volkswirtschaft droht, hat sich in den anderen Ländern die Opposition endlich zu effizienten und effektiven Koalitionen zusammengefunden. In der Slowakei hat die liberale Präsidentin Zuzana Čaputová dem korrupten, pseudo-sozialdemokratischen Ficos-Regime die Stirn geboten. In Tschechien erlitt die ANO-Partei des Milliardärs Andrej Babiš eine empfindliche Wahlniederlage, die ihn das Amt des Ministerpräsidenten kosten könnte. Und in Ungarn kam es, wie schon erwähnt, zur Vereinigung der gesamten Opposition gegen Fidesz; der gemeinsame Kandidat Péter Márki-Zay ist konservativ genug, um die Parlamentswahlen im Frühling 2022 auch im Hinterland zu gewinnen.

Es geht aber nicht nur um einen Personalwechsel. In den V4-Staaten haben sich Regime etabliert, die man mit dem politologischen Begriff State Capture belegen kann: In Ungarn und Polen haben sich völkisch-autoritäre Akteure den Staat zur Beute gemacht, in Tschechien und der Slowakei ein Netzwerk korrupter Wirtschaftsmagnaten. Die EU hat lange zugeschaut und klare Fälle von Rechtsstaatsverletzungen und Korruption, mit der nicht zuletzt „Gelder aus Brüssel“ an Günstlinge verteilt wurden, unbeantwortet gelassen. Sie hat „Artikel 7“-Verfahren angestrengt, aber die V4-Staaten haben sich jeweils gegenseitig gestützt und das Einstimmigkeitsprinzip genutzt, um sich herauszustehlen.

Das letzte Mittel ist nun der Entzug von Geldern aus dem EU-Recovery-Fonds. Das erscheint plump und gibt der Visegrád-Connection die Chance, sich zu Opfern von Erpressung zu stilisieren. Doch wenn sich die Europäische Union der schleichenden Transformation nicht widersetzt, wird die Visegrád-Gruppe der Katalysator ihrer mittelfristigen Erosion und der Zerstörer der europäischen Idee sein. Genau deshalb ist die Entdemokratisierung keine innenpolitische Angelegenheit der vier Länder, von denen die westlichen und südlichen EU-Partner weiterhin ignorant absehen könnten.

Im schlimmsten Fall bereitet sich dort ein neues Jalta, eine neue Spaltung Europas vor, die Russland und China die Tore weit öffnet. Im besten Fall aber kommt der Durchbruch zu einer vertieften Union. Das wird nur gelingen, wenn die EU jetzt Farbe bekennt und die zivilgesellschaftliche Opposition unterstützt.

Ireneusz Paweł Karolewski ist Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und Initiator des dortigen Panel on Planetary Thinking. Jüngst erschien ihr Buch „Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa“ im Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 176 Seiten, 20 Euro.





Weitere Artikel dieser Ausgabe