Interessen und Moral

Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale – wie Deutschland und Europa eine Linie gegenüber China finden könnten

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Interessen und Moral

Partner, Wettbewerber, systemischer Rivale – wie Deutschland und Europa eine Linie gegenüber China finden könnten

Der 20. Parteitag der KP China ist mit dem zu erwartenden Ergebnis zu Ende gegangen: Xi Jinping ist zum dritten Mal als Generalsekretär wiedergewählt, damit ist der Weg geebnet für seine dritte Wahl zum Staatspräsidenten im Frühjahr, präzedenzlos seit Mao Zedong. Damit ist die Ära Deng Xiaoping, die China 40 Jahre Wohlstandsentwicklung beschert hat, endgültig beendet. Die Strategie Dengs, „nach den Steinen tastend den Fluss (zu) überqueren“, ist Geschichte. Die Ära Xi soll China an die Spitze der Weltwirtschaft katapultieren, das Land modernisieren, bis 2049 zum Technologieführer in Schlüsselsektoren machen und China geopolitisch auf die globale Landkarte befördern. Das geht nicht durch Zaudern, sondern erfordert Quantensprünge. Der unausweichliche Paradigmenwechsel ist besiegelt.

Wenn es eines symbolischen Aktes bedurft hätte, um diesen Wandel zu demonstrieren, dann war es der befremdlich wirkende Abgang – um nicht zu sagen: die Abführung – des Vorgängers von Xi, Hu Jintao, aus der Schlusssitzung des Parteitags. Was immer der Grund dafür gewesen sein mag, dem sich sträubenden Hu schenkten weder Xi noch die anderen Mitglieder des Ständigen Ausschusses auch nur einen emphatischen Blick.

Die künftige Besetzung des neuen Machtzentrums, des Ständigen Ausschusses, spiegelt den Wandel von der kollektiven, aber durchaus noch heterogenen Führung hinter einem starken Autokraten zum Ausführungsorgan eines Alleinherrschers wider. Xi hat sechs enge und loyale Weggefährten, sechs sogenannte Xi’iten, mit den wichtigsten Ämtern betraut. Sie werden seine Politik konsequent umsetzen.

Schlüsselrollen werden zwei von ihnen haben, denen unsere Aufmerksamkeit in besonderer Weise gelten sollte: Li Qiang und Cai Qi.

Li, seit 2017 Parteisekretär von Shanghai, hat sich durch beinharte Durchsetzung der Null-Covid-Strategie von Xi einen Namen gemacht – ungeachtet der Massenproteste Shanghaier Bürger. Er wird Nummer 2 in der Nomenklatura und als neuer Ministerpräsident Nachfolger des wirtschaftsliberalen Li Keqiang. Li Qiang hat in der Provinz Zhejiang den Aufstieg von Tech-Firmen wie Alibaba begleitet und ein unternehmensfreundliches Umfeld gerade für private Unternehmen gefördert. Anders als seine Vorgänger in diesem Amt hat Li Qiang keine Regierungserfahrung als Vizepremier. Dafür dürfte er Xi Jinping näherstehen als sein Vorgänger.

Die eigentliche Überraschung im Team Xi ist Cai Qi als neuer Koordinator der Partei, eine nachgeordnete, aber zentrale Schnittstelle für die Sicherung des Primats der KP. Cai hat eine späte, aber umso steilere Karriere gemacht. Xi kennt ihn ebenfalls aus Zhejiang und arbeitet seit 20 Jahren in unterschiedlichen Funktionen mit ihm. Den Bürgermeister und anschließenden Parteisekretär von Peking lancierte er 2017 ins Politbüro der Partei. Seine Berufung in den Ständigen Ausschuss (PSC, Politburo Standing Committee) hatte kaum jemand prognostiziert. Cai soll Xi offensichtlich an den Schnittstellen zwischen Partei und Regierung den Rücken freihalten.

Die erste Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz nach China steht im Lichte dieses Paradigmenwechsels, der Europa vor große Herausforderungen stellt. Der Zeitpunkt unmittelbar nach der Machterweiterung Xis ist richtig, aber er erfordert ein besonderes Maß an Fingerspitzengefühl für die in China essenziell wichtige Symbolik und gleichzeitig die Bereitschaft zu klarer Kante: nicht Kotau, aber Augenhöhe.

Es geht nicht um business as usual, sondern um eine Neudefinition der Beziehungen zu einer chinesischen Regierung, die sich in einem zuspitzenden geoökonomischen und geopolitischen Konflikt mit den USA befindet. Ein Konflikt, der von Washington mindestens so stark angeheizt wird wie von Peking. Republikaner wie Demokraten sehen den Konflikt mit dem Reich der Mitte als unausweichlich, es ist inzwischen der einzige parteiübergreifende Konsens in einem ansonsten gespaltenen Amerika.

Es geht um eine Neudefinition der europäischen Beziehungen zu China, nicht allein der deutschen. Daher wäre es ratsam gewesen, mit der ersten Reise des deutschen Bundeskanzlers nach China ein europäisches Ausrufezeichen zu setzen – Scholz und Macron, am besten begleitet durch die Kommissionspräsidentin als Vertreterin der gesamten EU. Das wäre ein starkes Signal an Peking gewesen, eine gemeinsame europäische Standortbestimmung.

Aber wie so oft ist unseren Politikern das nationale Hemd näher als die europäische Jacke, und so ist zu hoffen, dass Scholz, Macron und Ursula von der Leyen wenigstens den kurz nach der Scholz-Reise in Bali stattfindenden G20-Gipfel nutzen, um Xi Europas Interessen gemeinsam zu verdeutlichen.

Worum geht es in der Sache?

Europa muss China deutlich machen, wo es sich im geoökonomischen und geopolitischen Konflikt zwischen USA und China verortet. Wertemäßig viel näher an Amerika, aber mit signifikant unterschiedlichen Interessen als globale Wirtschaftsmacht; Europa hat keine eigenen geopolitischen Ambitionen im Pazifik – aber ein fundamentales Interesse an freier Schifffahrt und einer funktionierenden regelbasierten globalen Ordnung. Keine Äquidistanz, aber auch kein Vasallentum im Verhältnis zu den USA, wie es so mancher chinesische Politiker der EU unterstellt.

Es geht darum auszuformulieren, was die Triade „Partner – Wettbewerber – systemischer Rivale“ in der Praxis bedeutet. Wo Europas rote Linien verlaufen und wo wir Raum für Konvergenz und Kooperation sehen. Nicht auf abstrakter Ebene, sondern in klarer, unmissverständlicher Politik.

Fünf Handlungsfelder, die für Chinas innere und äußere Entwicklung von zentraler Bedeutung sind, die aber vom Parteitag nicht oder jedenfalls nicht wahrnehmbar verhandelt wurden, könnten von Berlin und Brüssel genutzt werden, um klare Position zu beziehen.

1. Covid

Xi hat sich in seinem ideologisch getriebenen Kampf gegen die Pandemie verzockt. Seine Strategie, durch die in westlichen Demokratien unmöglichen Lockdowns zu beweisen, dass Pekings Autoritarismus mehr Menschenleben retten kann, ist gescheitert. Nachdem es anfangs durchaus so aussah, als ob China den richtigen Weg eingeschlagen hätte, drehte sich das Bild mit der Produktion effizienterer westlicher Impfstoffe ins Gegenteil. Corona belastet das Leben der Chinesen weiter schwer, die Wirtschaft ist angeschlagen, das für die innere Stabilität unverzichtbare Wirtschaftswachstum bleibt aus, während in den westlichen Ländern der Übergang zur Endemie erreicht werden konnte – ungeachtet der im Winter zu erwartenden höheren Infektionsraten. Und was aus Pekings Sicht noch schlimmer ist: Die europäische und amerikanische Technologie hat sich in einem lebenswichtigen Sektor, dem Gesundheitsbereich, als der chinesischen überlegen erwiesen. Wenn China aus der Krise herauswill, muss es westliche Impfstoffe nutzen – eine nicht zu unterschätzende Erniedrigung aus Sicht Pekings.

Der Kampf gegen Pandemien wird zum Dauerbrenner werden. Klug wäre es, wenn Europa China eine langfristige Zusammenarbeit bei der Pandemiebekämpfung anbietet, da Viren eben nicht Halt machen an nationalen Grenzen. Ohne Triumphgeschrei könnte so ein gesichtswahrender Weg für beide Seiten nach vorn definiert werden, mit- und nicht gegeneinander.

2. Ukraine

Peking ist auf das russische Narrativ hereingefallen. Putin hat sein offensichtliches Ziel, das Nachbarland in wenigen Wochen zu erobern, nicht nur nicht erreicht, seine militärische Macht wirkt erbärmlich. Der russische Angriffskrieg, der vom überwiegenden Teil der Staatengemeinschaft als flagrante Verletzung des Völkerrechts bewertet wird, hat Europa nicht gespalten, die transatlantische Allianz nicht beschädigt – im Gegenteil. Selten waren sich Europäer und Amerikaner so einig, ungeachtet kleinerer Meinungsverschiedenheiten im Detail.

Das Russlandbild ist stark beschädigt, auch in den Augen Chinas. Aber was soll Peking tun, war man doch 30 Jahre lang fest überzeugt, dass Michail Gorbatschow einen kapitalen Fehler gemacht hatte? Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist für zahllose Chinesen immer noch ein Alptraumerlebnis. Peking hat sich bisher krampfhaft um eine „neutrale“ Position in diesem Krieg bemüht – in der UN durch Stimmenthaltung, im Geleitzug mit den anderen BRICS-Partnern, die immerhin die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, und trotz der ideologisch wichtigen Übereinstimmung mit Moskau, die amerikanische Übermacht zu schwächen. Aber von ewiger Allianz zwischen China und Russland, die westliche Analysten immer wieder beschwören, kann nicht die Rede sein. China ist in seiner langen Geschichte nie Allianzen eingegangen. Man wird Moskau so lange als Partner nutzen, wie es chinesischen Interessen entspricht – und auch da bestenfalls nur als Juniorpartner.

Scholz und die Europäer sollten Xi unsere roten Linien klarmachen: Wer Putins Krieg aktiv unterstützt, muss mit europäischen Sanktionen rechnen. Und sollte Putin aus Verzweiflung nukleare Waffen nutzen, würde das zu einem globalen Konflikt führen, der China gleichermaßen trifft wie Europa. Die EU erwartet von Xi, dass er sein besonderes Verhältnis zu Putin nutzt, um diese Entschlossenheit ganz deutlich zu machen – auch im eigenen chinesischen Interesse. Durchaus im Wege stiller Diplomatie.

3. Taiwan

Der Ukraine-Krieg hat den Konflikt um Taiwan schneller aus der chinesischen Satellitenbahn katapultiert, als es Peking Recht sein kann. Die internationale Bewertung hat sich dramatisch verändert. In Europa hat trotz Krim und Donbass kaum jemand eine russische Invasion in der Ukraine für möglich gehalten. Am 24.Februar ist das scheinbar Unmögliche möglich geworden. Deshalb wird auf einmal eine Invasion Taiwans als reale Option gedacht. Konsequenz ist eine dramatisch gestiegene Unterstützung der Insel.

Auch wenn sich in der Sache die Position Pekings nicht wirklich verändert hat, befinden wir uns rhetorisch auf einer höheren Eskalationsstufe. Die chinesische Regierung betont seit Jahrzehnten, dass man eine friedliche Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland anstrebt; man hat aber schon immer hinzugefügt, dass man Gewalt nicht ausschließe, wenn der Status quo der Insel verändert werde. Im Klartext: wenn die Unabhängigkeit Taiwans aktiv betrieben wird. Der demonstrative Besuch von Nancy Pelosi, der einflussreichen Sprecherin des Repräsentantenhauses, in Taipeh hat zur rhetorisch mehr als deutlichen Wiederholung dieses Standpunkts durch Xi Jinping und zu den überdimensionierten Manövern vor der Küste Taiwans geführt. Gehört wird international seitdem nur seine Aussage: „Falls notwendig mit Gewalt.“

Peking befindet sich in einer selbstgezimmerten Falle. Zu einer Invasion und Besetzung Taiwans ist China militärisch bisher kaum in der Lage, wohl dagegen zu einer Blockade oder zur Lahmlegung der taiwanesischen Wirtschaft durch Cyberangriffe. Aber beides würde das Interesse Chinas an der vollen Integration der potenten taiwanesischen Wirtschaft in die eigene konterkarieren. Das kann nicht im Interesse Pekings liegen. Andererseits: Mit einer schwächeren Wiedervereinigungserzählung würde die ganze nationalistische Agenda, die China seit den frühen 1990er-Jahren betreibt, geschwächt. Mit welcher Begründung könnte die Volksrepublik dieses Narrativ fallen lassen?

Die europäischen Besucher Chinas werden Xi mit aller Deutlichkeit klarmachen müssen, dass Peking mit Gewaltakten gegen Taiwan genauso die rote Linie überschreiten würde wie Putin in der Ukraine. Europa wird Taiwan unterstützen – nicht militärisch wie Washington, aber durch massive Wirtschaftssanktionen gegen China. Daran darf kein Zweifel bestehen. Im bestverstandenen Interesse aller Beteiligten gilt daher aus europäischer Sicht: keine Veränderung des Status quo, Beibehaltung der Ein-China-Politik und Verzicht Pekings auf die gewaltsame Lösung des Problems. Die Taiwan-Frage sollte dringend zurück ins „historische Hinterzimmer“, in das sie Deng vor 40 Jahren geschoben hat.

4. Wirtschaft

Seit zwei Generationen funktioniert der informelle Gesellschaftsvertrag, wonach die Chinesen die Politik der KP akzeptieren, solange sie an der materiellen Wohlstandsentwicklung teilhaben. Dieser Vertrag beginnt spürbar zu bröckeln. Covid hat den Binnenkonsum abgewürgt, exzessive Schulden belasten die Provinzen und urbanen Zentren, das Platzen der Immobilienblase ist eine reale Gefahr, der nicht konvertierbare Renminbi eine signifikante Einengung chinesischer internationaler Wirtschaftsaktivitäten. Hinzu kommen der Ukraine-Krieg und die geoökonomischen Auseinandersetzungen mit USA, jüngst eskaliert durch Bildens Sanktionierung der chinesischen Halbleiterproduktion. Und ein Problem hängt wie ein Damoklesschwert über dem Reich der Mitte: die dramatische demographische Entwicklung. Erstmals soll es in diesem Jahr mehr Todesfälle geben als Geburten. All das wird die neue Regierung Xi unter Druck setzen, egal wie viel Macht der Präsident auch hat.

Scholz wird von einer Wirtschaftsdelegation nach Peking begleitet werden. Aber es darf nicht nur um neue Aufträge gehen – wie oft in der Vergangenheit. Europa ist wirtschaftlich für China ein nach wie vor zentraler Partner, Deutschland hat das größte Gewicht. Natürlich müssen einseitige Abhängigkeiten von China abgebaut werden – Nord Stream 2 hat einen überfälligen Lernprozess erzeugt. Aber auch China braucht die europäischen Partner.

Diversifizierung ist für europäische Unternehmen vernünftig, ein Ausstieg aus dem chinesischen Markt angesichts solcher gegenseitigen Abhängigkeiten keine sinnvolle Alternative. Wichtig ist dagegen für europäische Unternehmen Augenhöhe, Fairness und ein level playing field. Reziprozität darf nicht nur ein Schlagwort bleiben, sie muss konsequent umgesetzt werden – auf europäischer Ebene. Diesbezüglich müssen Scholz und die anderen europäischen Gesprächspartner eine klare Sprache sprechen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt.

5. Menschenrechte

So naiv es war, dass viele im Westen geglaubt haben, mit Entwicklung marktwirtschaftlicher Elemente in China politischen Wandel zu bewirken, so wichtig ist es, in Fragen schwerwiegender Verletzung der Menschenrechte Tacheles mit der chinesischen Führung zu reden. Es ist nicht Sache der Europäer zu entscheiden, in welchem politischen System die Chinesen leben wollen; das werden sie schon selbst tun, wenn die Legitimität der Führung ins Wanken gerät. Aber es ist Sache der Europäer, den Chinesen klarzumachen, dass individuelle Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit unveräußerliche Pfeiler des europäischen Selbstverständnisses sind. Sie sind ein Ergebnis unserer Geschichte; sie sind kein Vorwand, um China zu desavouieren. Und dass Europa auch weiter schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen öffentlich kritisieren wird, wo immer sie stattfinden. Auch in China. Insbesondere bei Unterdrückung von Minderheiten.

Das größte gemeinsame Interesse zwischen Europa und China besteht wahrscheinlich bei der wichtigsten Menschheitsaufgabe, dem Kampf gegen den Klimawandel. Hier ist es entscheidend, dass die Europäer Xi davon überzeugen, dass China nicht ausschließlich national vorgeht, sondern im Geleitzug der anderen Regierungen. Anders lässt sich Paris nicht verwirklichen. Peking spielt auch dort eine zentrale Rolle.

Olaf Scholz hat die einmalige Chance, nicht nur deutsche Interessen im Reich der Mitte zu vertreten, sondern der europäischen Sache eine Steilvorlage zu geben. Deutsche Interessen sind europäische Interessen, das muss Xi Jinping und den neuen Akteuren in China klar werden. Dann kann aus einem unglücklichen Alleingang des deutschen Bundeskanzlers ein Schritt in Richtung europäischer Emanzipation auch gegenüber einem scheinbar übermächtigen China werden.

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