Mit Physik und Psychologie gegen die Pandemie – Dirk Brockmann weist den Weg aus dem Corona-Desaster
Mit Physik und Psychologie gegen die Pandemie – Dirk Brockmann weist den Weg aus dem Corona-Desaster
Jetzt soll es also der strafende Staat richten: Der deutsche Innenminister brüstet sich damit, dass er auf Geheiß seines Berliner Kollegen Einsatzhundertschaften der Bundespolizei auf die Straßen der Hauptstadt schickt, um die Corona-Regeln durchzusetzen. Das ist vielleicht das bislang dumpfste Ablenkungsmanöver vom eigenen Versagen in der Pandemie: Ablenken davon, wie sehr die Politik seit dem vergangenen Sommer ihr wichtigstes Pfund verspielt hat – das Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern. „Insgesamt haben 37 Prozent eher geringes Vertrauen in die Bundesregierung“, lautet das vernichtende Urteil Mitte Oktober im zweiwöchentlich erscheinenden Covid-19-Bericht der Forschungsgruppe Cosmo unter Leitung der Erfurter Psychologie-Professorin Cornelia Betsch (Covid-19 Snapshot Monitoring, Welle 23). „Das Vertrauen hat den niedrigsten Wert seit Beginn der Erfassung erzielt.“ Dieses Drittel der Gesellschaft speist sich mitnichten aus der tatsächlich winzigen Gruppe der Corona-Leugner, die noch vor wenigen Wochen das Berliner Regierungsviertel mit ihren abstrusen Kommentaren beschallt haben und für diesen Unsinn reichlich Sendezeit auch in den öffentlich-rechtlichen Medien des Landes bekommen hat.
Doch wie konnte es so weit kommen in einem Land, das im europäischen Vergleich bislang gut durch die Pandemie gekommen ist? Ganz offensichtlich haben die Menschen ein sehr feines Gespür dafür, wenn ihnen Politiker inkohärente Entscheidungen vor die Nase setzen, ganz offensichtlich Angst zeigen vor dem Geschreie, dem Zorn der Wenigen in diesem Sommer auf der Straße des 17. Juni in Berlin. Oder – noch schlimmer – versuchen, sie paternalistisch zu erziehen.
Das zeigt sich gut beim nur auf Druck der Gerichte kassierten Beherbergungsverbot: „Nur 41 Prozent stimmen dem Beherbergungsverbot zu“, heißt es in der Cosmo-Studie. Und da liegt der gesunde Menschenverstand goldrichtig: Was soll daran falsch sein, mit dem Partner oder der Familie ins Grüne zu fahren, sich dort bei frischer Luft selbst zu isolieren und sich unter Einhaltung aller Corona-Regeln vom Corona-Stress im Alltag zu erholen? Nichts. Das Beherbergungsverbot für Menschen aus Corona-Hotspots war im Sommer erlassen worden, um die Verbreitung des Virus aus dem Corona-Hotspot Gütersloh zu Beginn der Sommerferien zu unterbinden, in einem Moment, in dem das Virus sehr weit zurückgedrängt war in der Fläche. Der Erlass ist seither nie hinterfragt worden. Mehr noch: Noch vorvergangene Woche verbreitete der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann das jetzt völlig überholte Mantra, dass „die Mobilität der Menschen“ von besonderem Übel sei in der Pandemie. Das Problem: Es stimmt nicht mehr, sobald das Virus wieder überall ist.
Ein Grund für diese Fehleinschätzung lässt sich schnell finden: Vor allem die Mediziner in Deutschland verstehen, anders als in den USA oder auch in Nachbarländern wie den Niederlanden, schlicht die Mathematik hinter der Pandemie-Entwicklung nicht. Das Medizinstudium hierzulande ist doch recht schmalspurig – während anderswo viel interdisziplinärer gelernt wird, das schließt Kenntnisse der Physik mit ein.
Physiker haben bereits Mitte der 2000er Jahre in vielen Untersuchungen gezeigt, dass sich, wenn ein Virus überall ist, die Pandemie dynamisch entfaltet. Und dann taugen die Modelle nicht mehr, die von einem Ausbruchsherd ausgehen, von dem aus sich das Virus verbreitert – so der Physiker Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität. Er muss es wissen: Brockmann und sein Forschungsteam haben das Modell entwickelt, das die weltweite Verbreitung des Virus, ausgehend vom chinesischen Ausbruchsherd in Wuhan, ziemlich genau berechnet hat mithilfe der Daten des internationalen Luftverkehrs.
Damals wäre es gut gewesen, hätte die Bundesregierung umgehend ein Landeverbot für Flüge aus China ausgesprochen. Doch davor schreckte das Kabinett – Ironie dieser Geschichte: wohl auch aus Angst vor dem Protest der größten deutschen Fluggesellschaft, die jetzt mit Steuergeldern am Leben erhalten wird. „Wir sehen die Pandemie viel zu sehr als epidemiologisch-medizinisches Ereignis“, sagt Brockmann, der auch die Projektgruppe für Epidemiologie am Robert Koch-Institut leitet. Da gehe es dann um Krankenhausbetten, um Intensiv-Kapazitäten, die Belastung des „Systems“ Krankenhaus. „Aber die Dynamik dieser Pandemie ist zu 99,9 Prozent von unserem Verhalten abhängig – und das muss man verstehen.“
Monatelang hat das Land der Dichter und Denker jetzt Medizinern und Politikern zugehört, Letztere zu einem hohen Anteil Absolventen eines juristischen Studiums. Doch beide Akademiker-Gruppen scheinen in ihrer Schmalspurigkeit überfordert zu sein gegenüber einem „hochdynamischen Phänomen“. Für Brockmann kommt es schlicht auf das Verhalten jedes Einzelnen an: „Wir können das sofort ausrotten, ohne Mühe – es muss nur jeder mitmachen.“ Ganz einfach: indem die Corona-Regeln eingehalten werden, Kontakte eingeschränkt werden, Maske getragen wird. Das Virus braucht den Wirt, wenn sich der Wirt verweigert, stirbt es aus. Es gehe um das „Empfinden, wie wir Kontakte wieder aufnehmen, wie wir uns in Gruppen verhalten, wie wir uns am Esstisch verhalten, laut reden, ob wir nun jetzt vielleicht doch die Leute in den Arm nehmen oder nicht.“ Es geht also um unser individuelles Verhalten und damit vor allem die Psychologie des Menschen. Und um das der Pandemie anzupassen, „haben wir mittlerweile sehr viel gelernt“, sagt Brockmann.
„In einer Studie nach der anderen stellen wir fest, dass sich Covid-19 fast ausschließlich in schlecht belüfteten Innenräumen ausbreitet, in denen sich im Laufe der Zeit viele Menschen versammeln – Hochzeiten, Kirchen, Chöre, Turnhallen, Beerdigungen, Restaurants und so weiter, insbesondere, wenn laut gesprochen oder gesungen wird, ohne Masken“, fasst Zeynep Tufekci in der US-Zeitschrift The Atlantic Ende September den Stand der Forschung zusammen. „Das Virus tendiert dazu, sich in Clustern auszubreiten.“
Vor allem im privaten Bereich, bei Feiern, wenn die Corona-Regeln nicht eingehalten werden: kein Abstand, keine Maske, zu viele Menschen auf einem Haufen. Psychologisch entfaltet der Mund-Nasen-Schutz psychologisch besonders dort eine besonders wichtige Rolle, wo er physiologisch womöglich am wenigsten hilft: in der Öffentlichkeit, auf dem Bahnhof unter freiem Himmel. Denn das ist das Signal: Wir leben in einer Pandemie, und es kommt auf mich an, mich entsprechend zu verhalten.
Die Cosmo-Forscher um die Erfurter Psychologin Betsch leiten daraus wichtige Empfehlungen für uns als Gesellschaft ab: In den kommenden dunklen Monaten dieser Pandemie „sollten Zivilorganisationen in die Maßnahmenentwicklung einbezogen werden oder diese leiten“. Der Sportverein also, die Schule, alle Gruppen, die uns im Alltag wichtiger sind als die Politik. „Ein Appell an die Rücksicht könnte auch in der Covid-19-Pandemie Schutzverhalten weiter befördern.“ Passen wir also aufeinander auf als Zivilgesellschaft – die braucht keine paternalistische Politik von Juristen.