Jenseits des Weißwurstäquators

Kanzlerkandidat oder Kanzlermacher? Markus Söder und die Geschichte der K-Frage in der Union

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PICTURE ALLIANCE/SVEN SIMON
Wo geht es hier nach Berlin? Die Kanzlerin und ihr Nachfolgekandidaten-Kandidat auf Schloss Herrenchiemsee Mitte Juli.
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Wo geht es hier nach Berlin? Die Kanzlerin und ihr Nachfolgekandidaten-Kandidat auf Schloss Herrenchiemsee Mitte Juli.

Jenseits des Weißwurstäquators

Kanzlerkandidat oder Kanzlermacher? Markus Söder und die Geschichte der K-Frage in der Union

Wie legt man sich scheinbar fest und lässt doch die wesentliche Frage offen? Diese Kunst sollte zwar jeder erfolgreiche Politiker beherrschen, aber der CSU-Vorsitzende ist (auch) darin ein Meister.

Gemeint ist nicht Markus Söders „Mein Platz“-Mantra, sondern seine im ZDF-Sommerinterview getroffene Aussage über die Rollenverteilung zwischen CDU und CSU bei der Einigung auf einen gemeinsamen Kanzlerkandidaten. Der Hinweis Markus Söders, der CDU komme wegen ihrer Größe das „geborene Vorschlagsrecht“ zu, die CSU könne jedoch zu diesem Vorschlag „Nein sagen“, ist kein versöhnlich gemeintes Angebot zur Konfliktvermeidung, sondern lediglich eine Aussage über die protokollarische Reihenfolge. In den meisten Wahljahren erfolgte die Festlegung der beiden Schwesterparteien in Einigkeit. Das hat weniger mit Harmoniestreben als mit der langen Amtszeit dreier CDU-Kanzler (Adenauer, Kohl, Merkel) zu tun. Dreimal lief es jedoch anders: 1966 trat die CSU als Kanzlermacherin auf und verhalf dem CDU-Kandidaten Kurt Georg Kiesinger durch ihre klare Positionierung im Vorfeld zum entscheidenden Vorsprung: Er konnte sich bei der Abstimmung in der Bundestagsfraktion – wenn auch erst im dritten Wahlgang – gegen drei Mitbewerber aus der CDU (Bundesaußenminister Gerhard Schröder, Fraktionsvorsitzender Rainer Barzel und zunächst auch Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier) durchsetzen. Der damalige kurzzeitige CDU-Vorsitzende und (Noch-)Bundeskanzler Ludwig Erhard spielte beim damit zusammenhängenden Streit um die Positionierung der bundesdeutschen Außenpolitik zwischen „Atlantikern“ und „Gaullisten“ keine Rolle. 2002 nahm die CSU die andere – die außergewöhnliche – Rolle ein und stellte selbst den Kandidaten. Angela Merkels Verzicht auf eine eigene Kandidatur, der nur deshalb zum Ausgangspunkt eines beispiellosen Aufstiegs werden konnte, weil Edmund Stoiber (CSU) die Kanzlerschaft (knapp) verfehlte, fiel der damals neuen CDU-Vorsitzenden angesichts des Widerstands aus den Reihen der CDU leicht.

Die Entscheidung über den Kanzlerkandidaten wurde bislang tatsächlich nur einmal zum Streitfall zwischen CDU und CSU: 1979 hatte die CDU das Fehlen eines klaren Auswahlverfahrens genutzt, um ohne Absprache den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (CDU) als Kanzlerkandidaten der Union vorzuschlagen. Hintergrund für den Verzicht des Parteivorsitzenden Helmut Kohl war dessen Einschätzung, dass die Union weder die FDP zum Koalitionswechsel veranlassen noch eine eigene absolute Mandatsmehrheit würde erringen können. Der Unmut in der CSU über die Eigenmächtigkeit des ohnehin unbeliebten Kohls war so groß, dass die Partei die Nominierung ihres Vorsitzenden und Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat mit der (erneuten) Drohung verband, womöglich auch außerhalb Bayerns anzutreten. Dieses erpresserische Kalkül ging bei der Abstimmung in der Bundestagsfraktion im Juli 1979 zwar auf (135 gegen 102 Stimmen für Strauß). Es gelang dem Bayern aber nicht, die norddeutschen CDU-Landesverbände und deren Wählerschaft in ausreichendem Maß zu mobilisieren. Daran änderte die „Wahlkampfbegleitung“ von Strauß durch angesehene norddeutsche CDU-Politiker wie Walther Leisler Kiep und Gerhard Stoltenberg nichts.

Vorbilder für den Kanzlerkandidaten-Aushandlungsprozess gibt es in der Geschichte der beiden Parteien also ausreichend. Fragt sich nur, ob eines der Szenarien zur derzeitigen Konstellation passt. Wie wegweisend die Vorentscheidung beim CDU-Parteitag am 4. Dezember auch aus Sicht der CSU sein wird, hängt von der Eindeutigkeit des Ergebnisses und der Lautstärke der Anhängerschaft eines womöglich knapp unterlegenen Kandidaten ab. Für den Fall, dass die CDU so ungeschickt sein sollte, bald nach der Wahl ihres neuen Vorsitzenden Zweifel an dessen Eignung als erfolgreicher Kanzlerkandidat zu schüren, wird die CSU das von Söder reklamierte Vetorecht in Sachen Kanzlerkandidatur beanspruchen. Eine solche Konstellation kann, muss aber nicht in der eigenen Kandidatur des CSU-Vorsitzenden münden. Ort der Entscheidung wird erneut die Bundestagsfraktion sein, bestehend aus 200 Abgeordneten der CDU und 46 der CSU. Wer Argumente sammelt, warum Söder trotz seines Ehrgeizes und seiner Selbsteinschätzung sowie des berechtigten Stolzes über beeindruckende Umfrageergebnisse nicht als Kanzlerkandidat antreten wird, sei an die Prioritätensetzung der CSU („Bayern zuerst“) erinnert. Das zentrale Erfolgskriterium, an dem der CSU-Vorsitzende von seiner Partei gemessen wird, ist nicht sein Einsatz für die gesamte Bundesrepublik, sondern die nächste Landtagswahl in Bayern: Dort will die CSU wieder allein regieren.

Die Unwägbarkeiten, die mit einem CSU-Bundeskanzler(kandidaten) verbunden sind, sowie die schwierige Nachfolgeregelung in Bayern sprechen dagegen, politischen Ehrgeiz im Kanzleramt auszuleben. Womöglich war das Interessanteste am ZDF-Sommerinterview nicht die Information über die Reihenfolge bei der schwesterlichen Entscheidungsfindung, sondern eine nach 17 Minuten und 41 Sekunden beiläufig getroffene Feststellung Söders: „Ich bin kein Außenpolitiker.“ Auch diese Aussage spricht dafür, dass der Ministerpräsident sein „Mein Platz“-Mantra selbst ernster zu nehmen scheint als die Öffentlichkeit. Die Entscheidung, das mediale Mutmaßen über seine Kanzlereignung dennoch für sich und die CSU in Bayern zu nutzen, wäre dann als Ausdruck deren institutioneller und politischer Doppelrolle als autonomer Landespartei mit besonderem Bundescharakter zu lesen. Schließlich kommt die nächste Landtagswahl bestimmt: 2023.

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