Editorial des Verlegers
Editorial des Verlegers
Liebe Leserinnen und Leser,
was muss noch geschehen, ehe der Kurznachrichtendienst Twitter dafür sorgt, dass Taliban-Vertreter dort nicht mehr Propaganda für ihr Terrorwerk betreiben können?
Man kann diese Frage zugleich mit wohlerwogener moralischer Empörung lesen – aber eben auch als politische, rechtliche und am Ende selbst als ökonomische Problemkonstellation, beruht das Geschäftsmodell des amerikanischen Konzerns doch auf der Menge des Traffics, der schieren Zahl der Nutzer und ihrer Interaktionen dort, ganz gleich zu welchem Zweck oder in welcher Absicht.
Sabina Wolf rollt den Fall in diesem Hauptstadtbrief am Sonntag zunächst einmal in dankenswerter Nüchternheit auf, wer ist wo und unter welchen Bedingungen handlungsbefugt, handlungsfähig und schließlich handlungsbereit, den Tweets der Taliban den sprichwörtlichen Stecker zu ziehen. Sie analysiert rechtliche Spielräume und Zuständigkeiten und legt die Eigentümlichkeiten und Schwierigkeiten offen.
Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt Wolf sich mit Cyber- und IT-Sicherheitsthemen sowie der Hetze extremistischer Gruppen im Netz. Wolf hat Reportagen und Dokumentationen über die Bedrohung der Gesellschaft durch Cyber-Verbrechen und grenzüberschreitende organisierte Kriminalität produziert. Sie wurde mit dem Ernst-Schneider-Preis der Deutschen Wirtschaft, dem Bayerischen Fernsehpreis sowie dem Journalistenpreis für Informatik ausgezeichnet und schreibt zum ersten Mal für den Hauptstadtbrief.
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Gwendolyn Sasse berichtet im zweiten Beitrag von den jüngsten Entwicklungen in der verworrenen Lage zwischen der Ukraine und Russland – und den Vermittlungsversuchen der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in den letzten Wochen ihrer Kanzlerschaft noch einmal Anlauf nimmt, mit einer Wiederbelebung des Normandie-Formats wenigstens zu Erleichterungen und einer Verbesserung der Lage in der Ostukraine zu kommen.
Sasse, die das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien leitet, hat aber nicht nur die Nachrichten der vergangenen Woche im Blick, sie entwirft in ihrem Beitrag auch auf engem Raum ein Porträt der ukrainischen Gesellschaft 30 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, das tiefer geht als die üblichen Schlagzeilen über ein vorgeblich geteiltes Land. Wie so oft, kann man bei Sasse lernen, kommt es auf die Schattierungen und – zweisprachlichen – Zwischentöne an.
Günter Bannas vergleicht das außenpolitische Sendungs- und Symbolbewusstsein der Bonner und Berliner Republiken. Auch ohne nostalgische Verklärung erscheinen die Halbherzigkeiten angesichts der Schreckensbilder aus Afghanistan doch betrüblich. Die Formel vom fälligen Mentalitätswandel dient häufig der Verschiebung aller notwendigen Veränderungen auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Aber damit dürfte dieses Mal doch Schluss sein.
Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich bis zur nächsten Woche
Ihr Detlef Prinz