Kapitulationen und kleine Erfolge

Deutschland bringt eine folgenreiche Ratspräsidentschaft hinter sich. Eine Bilanz

26
12
SHUTTERSTOCK.DE/ANIBAL TREJO
Brüsseler Spitzen-Werte: Meinungsfreiheit, Widerstandsgeist und Demokratie. Manneken Pis in Europas „Hauptstadt“
26
12
SHUTTERSTOCK.DE/ANIBAL TREJO
Brüsseler Spitzen-Werte: Meinungsfreiheit, Widerstandsgeist und Demokratie. Manneken Pis in Europas „Hauptstadt“

Kapitulationen und kleine Erfolge

Deutschland bringt eine folgenreiche Ratspräsidentschaft hinter sich. Eine Bilanz

Die EU-Ratspräsidentschaft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Diese Feststellung greift dem Urteil über die zu Ende gehende deutsche Ratspräsidentschaft nicht vor, sondern trägt den institutionellen Veränderungen Rechnung, die die EU seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon prägen. Die beim Vorsitzenden des Europäischen Rates liegende Gestaltungsmacht ging den Regierungschefs der betreffenden Mitgliedstaaten ab 2009 verloren und wurde zur Sicherung der Kontinuität auf den Präsidenten des Europäischen Rates (derzeit Charles Michel) übertragen. Die rotierende Ratspräsidentschaft darf inzwischen nur noch den verschiedenen Formationen des Ministerrates (mit Ausnahme der Außenminister) vorsitzen.

Während also der Handlungsspielraum in der zweiten EU-Ratspräsidentschaft von Angela Merkel gegenüber ihrer Ersterfahrung (Januar bis Juni 2007) deutlich schrumpfte, waren ansonsten die Voraussetzungen gegeben, um einer Empfehlung des Stabschefs (2009-2010) von Präsident Barack Obama, Rahm Emanuel, Rechnung zu tragen: „Never allow a good crisis go to waste. It’s an opportunity to do the things you once thought were impossible.“

Hatten manche Beobachter ihre unbefriedigte Sehnsucht nach einer bundesdeutschen Europa-Vision im Vorfeld noch in verschiedene Arbeitsaufträge an die deutsche Ratspräsidentschaft umzumünzen versucht, waren die Verantwortlichen – allen voran der formidable Botschafter Michael Clauß – zu deren Beginn am 1. Juli 2020 froh, nicht noch mehr selbstgesteckte Ziele der Pandemiebekämpfung opfern zu müssen. Neben dem Brexit-Drama, das mit der deutschen Ratspräsidentschaft dauerhaft verknüpft sein wird, ohne dass diese nennenswerten Einfluss auf seinen Verlauf hatte, kann sich die Bundesregierung vier große Themen ins Erinnerungsbuch zur Ratspräsidentschaft schreiben: In Sachen Asyl- sowie Klimapolitik fällt das Urteil höchst unterschiedlich, aber jeweils eindeutig aus: Der von der EU-Kommission vorgeschlagene neue „Pakt zur Migration“ wurde nicht beschlossen, und der deutsche Bundesinnenminister hat sein Ziel verfehlt, wenigstens eine grundsätzliche Einigung über die zukünftigen Prinzipien der europäischen Flüchtlingspolitik zu erreichen. Noch deutlicher muss die Wortwahl ausfallen, wenn man das politische Versagen angesichts der Situation in den Flüchtlingscamps an den Außengrenzen der EU benennen will: Dort haben die EU, die deutsche Ratspräsidentschaft, aber auch weite Teile der europäischen Öffentlichkeit schändlich kapituliert.

Im Vergleich dazu erscheinen die Verhandlungsergebnisse zur europäischen Klimapolitik geradezu erfreulich. War zunächst zu befürchten, dass die Visegrád-Staaten auch dort blockieren und den Kampf gegen die Pandemie zum Anlass nehmen würden, das Ziel einer Senkung der Emissionen auszusetzen – was zum Verfehlen der Vorgaben des Pariser Klimavertrags von 2015 geführt hätte – errang die deutsche Ratspräsidentschaft die Zustimmung aller Mitgliedstaaten zu einem ambitionierten Klimaziel für das Jahr 2030. Dazu wurde zusätzlich zur Verknüpfung von 30 Prozent des künftigen EU-Budgets mit „grünen Themen“ ein Milliarden-Fonds eingerichtet, der den kohleabhängigen Staaten nicht nur den Wechsel zu erneuerbaren Energien erleichtern soll, sondern eben auch ihr Einverständnis.

Es gehört zu den spezifisch europäischen Kontingenzerfahrungen, dass eben diese zwei Staaten die deutsche Ratspräsidentschaft vor eine weitere schier unlösbare Aufgabe stellten: Das Veto der Regierungen Polens und Ungarns gegen den mehrjährigen Finanzrahmen der EU sowie das Corona-Wiederaufbauprogramm „NextGenerationEU“ als dritte große Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft wurde überwunden, indem diese eine Einigung auf die Erklärung zum sogenannten Rechtsstaatsmechanismus erzielte – eigentlich ihrem vierten Thema.

Kritiker befürchten, die getroffenen prozeduralen Zusicherungen, allen voran die juristische Überprüfung der erst noch durch die Kommission zu entwickelnden Leitlinien durch den Europäischen Gerichtshof könnten gefährliche Folgen haben: Zum einen relativiere diese den mit Blick auf die Gewaltenteilung zwischen den EU-Institutionen ohnehin anfechtbaren Rechtsstaatsmechanismus. Zum anderen werde der EuGH durch die Befassung mit dem Konflikt endgültig politisiert. Und schließlich ist damit zu rechnen, dass Polen und Ungarn „auf den Geschmack kommen“ und das nächste Einstimmigkeitserfordernis zum Anlass nehmen, die „EU-25“ erneut zu erpressen.

Der ungarische Regierungschef verewigte sich nicht nur im Erinnerungsbuch zur deutschen Ratspräsidentschaft, sondern wagte eine kleine Einmischung in die CDU-Nachfolgedebatte: So verknüpfte Orbán seine Erzählung vom angeblichen Verhandlungserfolg mit dem Hinweis, seine „christlich-nationale Regierung“ nehme im Großen und Ganzen dieselbe „geistige Position“ ein wie die CDU unter dem Vorsitz von Helmut Kohl (1973-1998). Damit legte er nicht nur dem EVP-Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) ein Päckchen Boshaftigkeit unter den Fraktionschristbaum. Er erinnerte zugleich seine einstigen Freunde in der Union im Vorfeld des CDU-Parteitags Mitte Januar 2021, worum es nach der Parteivorsitzenden Angela Merkel (2000-2018) auch geht: nicht nur um Personen, sondern um die Frage, welche Rolle Jahrzehnte des gesellschaftlichen Wandels bei der inhaltlichen Ausrichtung der CDU spielen sollen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe