Woher stammt und was bedeutet die Rede von der Singularität des Holocaust. Eine historische Einordnung angesichts der aktuellen Debatte
Woher stammt und was bedeutet die Rede von der Singularität des Holocaust. Eine historische Einordnung angesichts der aktuellen Debatte
„Die Geschichte hat niemals eine größere Zerstörung einer ethnischen oder nationalen Bevölkerung gesehen.“ Dies schrieb der Lehrer Abraham Lewin im August 1942 im Warschauer Ghetto in sein Tagebuch. Die Züge aus Warschau rollten in diesem Sommer 1942 unablässig nach Treblinka, wo jüdische Männer, Frauen und Kinder unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden.
Dort ist bereits formuliert, dass der Judenmord einzigartig in der Geschichte sei. Über ein Thema, das zuletzt in deutschen Feuilletons wieder diskutiert wurde, dachten schon die Zeitgenossen nach: Ist der Holocaust singulär? Heute erscheint dies mitunter untrennbar verbunden mit der Frage: Darf man den Holocaust mit anderen Verbrechen vergleichen?
Wie ein roter Faden zog sich der Gedanke der Einzigartigkeit im Jahr 1942 durch die Aufzeichnungen von Abraham Lewin. Am 12. Juni dachte er über die von Flavius Josephus verfasste Geschichte des Jüdischen Krieges nach. Er kenne die furchtbaren Geschichten in diesem Buch gut. Doch wenn er diese damit vergleiche, was seine Generation nun erlebe, „dann komme ich zu der Schlussfolgerung, dass die Taten der Deutschen blutiger, teuflischer und schockierender sind als diejenigen der Griechen und Römer vor 2000 Jahren.“ Man dürfe nicht vergessen, dass es sich damals um eine kriegerische Auseinandersetzung gehandelt habe, heute würden unbewaffnete und unschuldige Menschen brutal getötet.
Lewin kam im Wege des Vergleichs mit dem jüdischen Aufstand gegen die Römer, der 70 nach Christus zur Zerstörung des Zweiten Tempels geführt hatte, zu dem Urteil, dass die von Deutschen an Juden verübten Taten der Gegenwart „blutiger, teuflischer und schockierender“ seien. Er relativierte die Verbrechen keineswegs, indem er sie einem Vergleich unterzog, im Gegenteil: Indem er sie in Bezug zu einem Krieg setzte, in dessen Verlauf laut seinem Gewährsmann Flavius Josephus über eine Million Juden ums Leben gekommen sein sollen, war es ihm erst möglich, die Dimension der deutschen Verbrechen scharf hervorzuheben.
Um Orientierung und Halt zu finden, suchten die Verfolgten Parallelen zu ihrem Schicksal. Einer der beliebtesten Romane im Warschauer Ghetto war „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, in dem Franz Werfel vom türkischen Genozid an den Armeniern berichtet. Werfel berichtet aber auch vom Widerstand von etwa 5000 Armeniern, die gerettet werden konnten, und so kursierte der Roman im Warschauer Ghetto im Untergrund.
Häufig führte der Vergleich zur Feststellung der Einzigartigkeit. Am 11. Juli 1942 notierte der Lehrer Chaim Kaplan: „In der Tat ist das nicht die erste physische Vernichtung, die sich in der jüdischen Geschichte ereignet hat. In jeder Generation haben sie sich gegen uns erhoben, um uns zu vernichten. Die uns aus unserer Geschichte bekannten Erfahrungen gleichen jedoch nicht unserer jetzigen Erfahrung. Es besteht keine Ähnlichkeit zwischen einer physischen Vernichtung, die das Ergebnis eines plötzlichen Ausbruchs zum Mord aufgehetzter fanatischer Pöbelhaufen ist, und diesem kalkulierten Programm einer Regierung, die für den Vollzug einen eigenen Mordapparat organisiert hat.“
Keine zwei Wochen später begannen die Deportationen nach Treblinka. Am 2. August vermerkte Chaim Kaplan, wie schwer ihm das Schreiben falle, da er selbst stündlich mit seiner Deportation rechnen müsse: „Und das sei gesagt: Vom Anbeginn der Welt, seit der Zeit, als der Mensch zum ersten Mal über seinen Nächsten herrschte, um ihm Böses zu tun, hat es nie eine so grausame und barbarische Austreibung wie diese gegeben.“ Das Tagebuch endet zwei Tage später. Chaim Kaplan wurde in Treblinka ermordet.
Abraham Lewin notierte wenige Tage später, dass jedes Verbrechen in der Geschichte im Vergleich zu dem, was sie erlebten, bedeutungslos werde. Er berichtete über ein Gespräch mit einem Flüchtling aus Treblinka, der ihm und seinen Kollegen aus dem Untergrundarchiv des Ghettos genau schilderte, was dort vor sich ging. Lewin schrieb: „Dies ist zweifellos das größte Verbrechen, das jemals in der gesamten Geschichte verübt wurde.“ Sein letzter Tagebucheintrag datiert vom 15. Januar 1943. Vermutlich wurde er kurz danach ermordet.
Der Schriftsteller Wassili Grossman benannte Ende 1943 ein zentrales Kriterium, das in späteren Debatten eine große Rolle spielen sollte: die angestrebte Totalität der Vernichtung. Grossman, der aus einer assimilierten jüdischen Familie stammte, war seit August 1941 für eine sowjetische Militärzeitung tätig. Er war dabei, als sowjetische Truppen bis Ende Oktober 1943 die deutschen Besatzer aus den Gebieten östlich des Dnjepr vertrieben, und verfasste die Reportage „Ukraine ohne Juden“, die Ende 1943 in der Zeitung Ejnikajt des Jüdischen Antifaschistischen Komitees der Sowjetunion erschien. Grossman schilderte, wie er in leere, niedergebrannte, vollkommen stille Dörfer wie Kosary kam: „Und ich dachte mir, dass genauso, wie Kosary schweigt, auch die Juden der Ukraine schweigen. Es gibt keine Juden in der Ukraine.“ In einer endlos anmutenden Reihung zählte er auf, wer alles nicht mehr am Leben war: „Ermordet wurden Sängerinnen, ermordet wurden Blinde, ermordet wurden Taubstumme, ermordet wurden Geiger und Pianisten, ermordet wurden Zweijährige und Dreijährige …“. Am Ende formulierte er: „Seit Bestehen der Menschheit hat es kein solch unerhörtes Massaker, keine solche organisierte Massenausrottung vollkommen unschuldiger, schutzloser Menschen gegeben. Das ist das größte Verbrechen, das die Geschichte kennt – und die Geschichte kennt doch nicht wenige Übeltaten. […] Niemand hat so viel Blut auf der Erde vergossen, niemand hat solche Verbrechen begangen. Denn hier geht es wirklich um die Ausrottung eines ganzen Volkes, um die Vernichtung von Millionen Kindern, Frauen und Alten.“
Auch von nichtjüdischer Seite oder von Juden, die nicht unmittelbar bedroht waren, gab es die Einschätzung, der Judenmord sei singulär. Dies war bei verschiedenen nichtjüdischen Untergrundbewegungen der Fall, aber auch im 1943 in New York erschienenen „The Black Book of Polish Jewry“, in dem Jacob Apenszlak im Vorwort vom Judenmord als „der monströsesten Verfolgung in der Menschheitsgeschichte“ spricht.
Noch während des Krieges war derart oft – die genannten Beispiele sind nur eine Auswahl – davon die Rede, dass dieser Massenmord einzigartig sei, dass es naheliegt, dort den Ursprung des später und im Moment gerade wieder diskutierten Diktums von der Singularität des Holocaust zu sehen. Der Wille, ein ganzes Volk vollständig auszulöschen, es sich nicht zu unterwerfen, sondern es zu vernichten, war einmalig in der Geschichte.
Die Frage, ob der Vergleich zulässig sei, wurde damals nicht gestellt – er bildete vielmehr die Grundlage, um das Erlebte einordnen zu können. Der Vergleich war notwendig, um zu verstehen, dass das nun Erlebte über alles bisher Geschehene hinausging. Vergleiche bedeuten keine Gleichsetzung und keine Relativierung von Verbrechen, sie sind notwendig, um Kontexte besser zu verstehen und historische Tiefenschärfe zu erreichen. Und um die Besonderheiten eines jeden Verbrechens genauer herauszuarbeiten, in diesem Fall darum, das Spezifische des Holocaust gegenüber anderen Genoziden herauszuarbeiten. Dies wussten schon die Zeitgenossen.