Kiewer Krisen

Vor 30 Jahren wurde die Ukraine unabhängig. Was ist sie heute?

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PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS
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Kiewer Krisen

Vor 30 Jahren wurde die Ukraine unabhängig. Was ist sie heute?

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat kurz vor dem offiziellen Ende ihrer Amtszeit bewusst zwei separate Reisen nach Moskau und Kiew unternommen. Es war ein Signal an ihren Nachfolger oder ihre Nachfolgerin und an die EU, wie wichtig die Beziehungen zu Russland und zur Ukraine sind und welchen persönlichen Einsatz diese erfordern.

Merkels Besuch bei Präsident Wladimir Putin am 20. August verlief vorhersehbar unspektakulär. Der respektvolle Umgang der beiden miteinander wirkte fast versöhnlich – auch wenn sie sich ihre konträren politischen Ansichten ein weiteres Mal ausbuchstabierten. Nur beim Thema Afghanistan dürfte es etwas mehr Raum für eine Diskussion gegeben haben, denn Russlands diplomatische Kanäle zu den Taliban und nach Pakistan sind für die Stabilität in der Region von Bedeutung.

Verlegte Röhren

Die Stimmung bei Merkels Besuch in Kiew zwei Tage später war auffällig verhalten. Präsident Volodymyr Selenskyj dankte Merkel für die langjährige politische und finanzielle Unterstützung aus Deutschland, doch er verband diesen Dank mit deutlicher Kritik an der Haltung der deutschen Regierung zu Nord Stream 2. Für die Ukraine geht es beim Bau der Pipeline durch Gazprom nicht nur um den Verlust der Einnahmen für den russischen Gastransit durchs Land, sondern vor allem um die eigene staatliche Sicherheit vis-à-vis Russland.

In der Bilanz ist die deutsche Politik gegenüber der Ukraine ambivalent geblieben: Zum einen war Merkel maßgeblich an der Aushandlung des Minsker Abkommens im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland), das zumindest die Eskalation des mit der Unterstützung Russlands geführten Kriegs in der Ostukraine verhindert hat, sowie am EU-Sanktionsregime in Reaktion auf diesen Krieg und die ihr vorangegangene Krim-Annexion durch Russland beteiligt. Zum anderen hat sie Nord Stream 2 lange Zeit als rein wirtschaftliches Projekt bezeichnet und die Fertigstellung der Pipeline nur ein einziges Mal, nach dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, kurz infrage gestellt.

Formate und Plattformen

Überraschenderweise kündigte Merkel in Kiew an, dass es ein neues Gipfeltreffen im Normandie-Format geben solle. Es ist davon auszugehen, dass sie diesen Vorschlag zuvor in Moskau sondiert hatte. Eigentlich wollten alle beteiligten Seiten nur einen neuen Versuch in diesem seit Jahren stockenden Prozess starten, wenn es realistische Aussichten auf einen Fortschritt gibt. Die Lage im Kriegsgebiet hat sich in den vergangenen Monaten wieder zugespitzt. Die Hoffnung scheint zu sein, dass man sich einmal mehr zumindest auf einen temporären Waffenstillstand und humanitäre Erleichterungen verständigen könnte.

Selenskyj hätte Merkel lieber einen oder zwei Tage später in Kiew begrüßt. Am Tag nach ihrem Besuch, am 23. August, wurde die Krim-Plattform eröffnet, eine neue Initiative des ukrainischen Präsidenten, die die internationale Aufmerksamkeit stärker auf die Folgen der Annexion richten und langfristig auf die Reintegration der Halbinsel in den ukrainischen Staat hinwirken soll. Die deutsche Regierung war durch Wirtschaftsminister Peter Altmaier vertreten – aber eben nicht durch die Kanzlerin oder den Außenminister.

30 über Nacht

Auch am 24. August, dem 30. Unabhängigkeitstag der Ukraine, wäre die Kanzlerin ein willkommener Gast in Kiew gewesen. Der Tag wurde mit einer Militärparade gefeiert, an der auch Delegationen aus Nato-Ländern teilnahmen. Bei allem Jubel lag der Akzent bei den Feierlichkeiten auf der Notwendigkeit, die Ukraine gegen russische Aggressionen zu verteidigen.

In den 30 Jahren seit der Unabhängigkeitserklärung durch das Parlament der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik am 24. August 1991 ist viel passiert. Am 1. Dezember 1991 wurde die Unabhängigkeit zunächst durch ein Referendum legitimiert, bei dem sich mehr als 90 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit aussprachen, darunter auch eine Mehrheit auf der Krim. Damit war das Ende der Sowjetunion besiegelt.

In der ukrainischen Geschichte gibt es verschiedene Episoden der Unabhängigkeit, des Bestrebens nach Selbstständigkeit in verschiedenen politischen und räumlichen Kontexten. 1991 wurde die Ukraine jedoch zum ersten Mal in ihren durch die Sowjetunion geprägten westlichen und südlichen Grenzen ein unabhängiger Staat. Die Aufgabe der Staats- und Nationsbildung wurde somit neben den politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen zu einer zentralen Herausforderung.

Ossis und Wessis

Dabei ist die historisch gewachsene regionale und ethno-linguistische Diversität der Ukraine oft missverstanden worden. Zu häufig wird die Ukraine als ein gespaltenes Land porträtiert – bestehend aus einer reformwilligen, gen Westen orientierten und ukrainischsprachigen Westukraine und einer nach Russland ausgerichteten, reformunwilligen und russischsprachigen Ostukraine. Die interne Diversität des Landes ist jedoch komplexer und weniger konfliktbehaftet, als das Bild der Zweiteilung suggeriert. So ist zum Beispiel der Alltag in der Ost- und Südukraine durch verschiedene Gradabstufungen russisch-ukrainischer Zweisprachigkeit und einen kontextabhängigen Sprachgebrauch geprägt. Darüber hinaus bleiben ethnische Klassifizierungen ambivalent und vermischen sich mit einer am ukrainischen Staat festgemachten staatsbürgerlichen Identität.

Aus Moskau wird immer wieder versucht, die Unabhängigkeit der Ukraine in Worten und Taten zu unterminieren. Und dennoch: Intern sind die ukrainischen Eliten und die ukrainische Bevölkerung durch die Demokratisierungsschübe der Orangenen Revolution von 2004 und des Euromaidan von 2013/14, aber auch durch die Annexion der Krim und den andauernden Krieg in der Ostukraine geeinter als je zuvor. Die Ukraine hat als unabhängiger demokratischer Staat längst ihren Platz in der Mitte Europas eingenommen und fordert eine vorausschauende deutsche und EU-weite Politik ein.

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