Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Kolumne | Auf den Zweiten Blick
Ausgerechnet der Tintenfisch erreicht zurzeit zweifelhafte Berühmtheit. Und das über ein koreanisches Kinderspiel, das seinen Namen trägt: Squid Game. Die Konstruktion des Spiels soll hier keine Rolle spielen. Wichtiger ist, dass ein koreanischer Filmemacher aus einer Reihe von koreanischen Kinderspielen – darunter eben auch das Tintenfisch-Spiel – eine brutale Survival-Serie von verführerischer Tötungsästhetik für Netflix geschaffen hat. In der Serie werden massenhaft Menschen blutspritzend ermordet, weil sie in den Spielen zu den Verlierern zählen. Bisher haben weit mehr als 100 Millionen Zuschauer die Serie gestreamt.
Jetzt spielen überall auf der Welt ausgerechnet Kinder die Spiele und Szenen nach. Anders als in der Serie werden die minderjährigen Verlierer von ihren Altersgenossen zwar nicht umgebracht, aber häufig geohrfeigt, gemobbt oder sonst irgendwie gedemütigt. Das alles nennt sich Erfolg. Squid Game ist ein Mega-Hit.
Nur auf den zweiten Blick könnte sich der tiefere Sinn erschließen. Wer die Serie mit Spannung verfolgt, ist auch gewillt, die Verführungskraft der inhärenten Botschaft in Anspruch zu nehmen, um so auch zu demonstrieren, dass man der Faszination des bestialischen Spiels nicht erlegen ist. Squid Game sei, so heißt es dann, als gesellschafts- oder gar kapitalismuskritischer Kommentar unserer Zeit angelegt. Schließlich spielten arme, hochverschuldete Koreaner, die von den Mechanismen meritokratischer Gesellschaften auf die Verliererseite gedrängt wurden, um ihr Leben, damit sie im Erfolgsfall ihre Schulden begleichen können. Sie spielen gegeneinander und würden für den eigenen Erfolg sogar den Tod ihrer Mitmenschen in Kauf nehmen, so wie es – im übertragenden Sinne – im Turbo-Kapitalismus ja auch der Fall sei. Der Stärkere gewinnt, der Schwächere wird „eliminiert“. Rücksicht existiert nicht.
Man kann sich diese Serie auch anders schönreden: Auf den zweiten Blick wäre Squid Game der erstaunliche Aufstieg Südkoreas zu einer international viel beachteten Kulturbrutstätte, der er gelingt, mit ihrer – wenn auch recht platten – politischen Metaphorik alle Welt zu berühren. Das war dem Land schon mit der bemerkenswerten Satire Parasite gelungen, die gleich mehrere Oscars abräumte. Auch diesess Werk war gesellschaftskritisch. Nur nicht ganz so brutal.
Wenn Töten zum Kinderspiel mutiert, dann rettet den Film an dieser Stelle kein zweiter Blick. Deswegen sagen wir es lieber ganz direkt: Squid Game ist nicht clever, nicht ästhetisch, nicht intellektuell. Die Serie ist nichts anderes als eine Ansammlung von Gewaltinszenierungen, und sie versucht, Vergnügen daran zu vermitteln, Zuschauer des Massensterbens zu werden. Squid Game ist perfide gewaltverherrlichend und nicht nur wegen der Gewalt selbst, sondern auch wegen der Faszination, die von ihrer Inszenierung ausgeht, verstörend. Die Serie hat in Deutschland noch nicht einmal eine Altersfreigabe, weshalb schon Kindergartenkinder die Folgen schauen.
Eigentlich müssten solche Serien verboten werden. Aber davon sind wir inzwischen meilenweit entfernt. Im Gegenteil: Der fragwürdige Erfolg bringt es mit sich, dass es eine zweite Staffel geben wird.