Postskriptum
Postskriptum
Jüngst gab der von der einen Hälfte der Menschen, die im Internet laufend starke Meinungen vertreten, überaus geschätzte, von der anderen schon länger verachtete Kolumnist Harald Martenstein seinen prominenten Aufschlagplatz im Tagesspiegel auf, nachdem ein Text von ihm von der Zeitung gelöscht worden war. Er hatte, wohl tongue-in-cheek, die These vorgetragen, die Judensterne auf Demonstrationen gegen Pandemieregeln seien „sicher nicht antisemitisch“ zu verstehen, da sich die Demonstranten mit den Juden als Opfer identifizierten, auch wenn es anmaßend, verharmlosend und für Überlebende schwer auszuhalten sei.
Ungeachtet der Frage, ob es Martenstein um eine besonders verquirlte Pointe ging oder er einfach zu stolz auf seinen publizistischen Hö-Hö-Hö-Mut war, ist die Denkfigur in den Tagen und Wochen noch sehr viel schlechter gealtert, als sie es bereits im ersten Augenblick war.
Claus Leggewie arbeitete in der vergangenen Woche in der FAZ mustergültig heraus, wie der „Lumpenhistoriker“ Putin nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine Geschichtsklitterung bedient, die man sich kaum zynischer vorstellen könnte. In Butscha, Mariupol und Kiew findet dem russischen Präsidenten zufolge eine „Spezialoperation“ zur „Entnazifizierung“ statt. Leggewie hebt hervor, dass das ehrenvolle Gedenken an die Befreiung der NS-Konzentrations- und Vernichtungslager durch sowjetische Soldaten von Putin inzwischen „ruchlos instrumentalisiert“ werde für die „Feldzüge zur Wiederherstellung des russisch-(ex)sowjetischen Imperiums“.
Keine Frage, die krude aufgeladene Indienstnahme antinazistischer Rhetorik und Symbolik ist nicht nur moralisch ohne Wert, sie ist auch anmaßend, verharmlosend und nicht nur für Überlebende schwer auszuhalten. Schlechterdings ist derartige Rede zu einer Art Kitsch verkommen, den Saul Friedländer vor genau 40 Jahren in seinem eminent klugen Buch „Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus“ beschrieb. In Verbindung mit Tod und Opfergang wirke die „heruntergekommene Form des Mythos“ wie ein „Schlüsselreiz für eine bestimmte Spielart extremster politischer Mobilisierung“.