Eine deutsche Europa-Politik findet nicht statt. Eine Anklage
Eine deutsche Europa-Politik findet nicht statt. Eine Anklage
Als das Bangen vorbei war und – jedenfalls vorerst – einer deutlichen Erleichterung wich, da dämmerte manch einem gleichwohl, dass sich auch unter einem US-Präsidenten Joe Biden manches, aber nicht alles, ändern könnte. Gewiss: Der Ton in den transatlantischen Beziehungen würde wieder partnerschaftlicher werden. Aber in der Substanz? Immerhin: Was den Klimaschutz angeht, werden die USA wieder mitspielen, ähnlich wie unter Barack Obama, also auch nicht gerade enthusiastisch. Aber auch Biden wird darauf beharren, dass die Europäer ihre Verteidigungsausgaben erhöhen. Schließlich haben sie – die Europäer – das versprochen. Auch Biden ist kein Freund der Ostsee-Pipeline, es ist offen, ob er die US-Sanktionen zurücknimmt. Die Handelsbeziehungen überhaupt dürften ebenfalls nicht unbedingt einfacher werden. Demokratische Präsidenten verhalten sich seit jeher protektionistischer als ihre republikanischen Kollegen; dort hat Trump eher mit der Tradition seiner eigenen Partei gebrochen.
Der Freund jenseits des Atlantiks wird also ein schwieriger Freund bleiben. Europa kann nicht erwarten, dass seine Interessen von ihm (oder anderen) vertreten werden. Es muss sich auf sich verlassen, auf seine eigene Kraft, um bestehen zu können. Nicht nur neben den USA, auch neben Russland oder China.
Aber hat Europa überhaupt Kraft? Außenpolitisch kann die EU nur handeln, wenn alle ihrer Mitglieder zustimmen. Das hat es kürzlich einem Land wie Zypern ermöglicht, Sanktionen gegen weißrussische Machthaber zu blockieren. Nicht, weil es etwas dagegen hätte. Nein: Mit seinem Veto wollte der Inselstaat die EU zwingen, auch gegen die Türkei härter vorzugehen. Es war pure Erpressung. Und kein Einzelfall.
Seit Jahren ist die EU praktisch nicht in der Lage, chinakritische Entscheidungen zu treffen. Mal verhindert das Griechenland, mal Ungarn, mal Tschechien – und manchmal Deutschland. Während die chinesische Führung langfristige Interessen verfolgt, stehen in Europa oft kurzfristige Interessen im Vordergrund. Aus Angst vor Racheakten etwa gegen deutsche Auto-Exporteure scheut sich etwa die Bundesregierung, dem nahezu einhelligen Rat von Sicherheitsexperten zu folgen und den chinesischen Konzern Huawei aus der technischen Infrastruktur der 5G-Netze fernzuhalten. Chinesische Unternehmen können in Europa fast ungehindert Konkurrenten und deren Know-how aufkaufen, Gleiches ist europäischen Unternehmen in China verwehrt.
Die EU sollte ihren Mitgliedern das außenpolitische Gewicht verleihen, das sie allein nicht haben. Stattdessen fesselt sie der Zwang zur Einstimmigkeit und macht sie außenpolitisch stimmloser, als sie es alleine wären.
Im Inneren ist Europa seit Jahren einem fortschreitenden Erosionsprozess ausgesetzt. Die EU basiert auf Regeln, auf Vereinbarungen. Aber die finden immer häufiger nur dann Beachtung, wenn es gerade passt. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Pluralismus, Presse- und Meinungsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit – eigentlich Selbstverständlichkeiten, sie sind schließlich Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der EU, sind nicht mehr überall garantiert. Ein „Rechtsstaatsmechanismus“ soll sie jetzt durchsetzen, der für den Fall von Verstößen mit finanziellen Sanktionen droht. Soll – denn noch ist dieser Mechanismus nicht vereinbart. Ungarn hat sein Veto bereits angekündigt. In jedem Fall sind die Hürden für seine Anwendung hoch.
Wie soll man es nennen, dass seit Jahren eine ganze Reihe von Staaten EU-Pässe an zahlungskräftige, aber oft obskure Figuren verhökert, EU-Pässe, mit denen die sich dann nicht auf Malta oder Zypern, sondern gern in Berlin oder München niederlassen? Verluderung der Sitten? So war die Freizügigkeit für Personen jedenfalls nicht gedacht.
Europa befindet sich in einem zerrütteten Zustand. Woher soll es da die Kraft nehmen, auf die es sich angesichts der Weltlage besinnen soll, ja besinnen müsste?
Für ein Land, dessen Wohl und Wehe untrennbar mit Europa verbunden ist, müsste dies Grund und Anlass zu entschiedenen politischen Aktivitäten sein. Aber eine deutsche Europa-Politik findet nicht statt. Die Präsidentschaft der EU, die zurzeit in den Händen der Bundesregierung liegt, erschöpft sich im Bemühen, irgendwelche Kompromisse zu finden bei all dem, was gerade auf dem Verhandlungstisch liegt. Da kommt dann zum Beispiel eine Agrarreform heraus, die im Wesentlichen alles beim Alten lässt. Und in Sachen Rechtsstaatlichkeit bedrängt ausgerechnet die deutsche Regierung das Europäische Parlament, nicht allzu streng zu sein.
Aber eine Perspektive? Was Deutschland mit Europa will, was es mit Europa vorhat, wohin es die EU entwickeln und wofür es seine Partner gewinnen will – niemand kann diese Frage beantworten. Das zentrale, größte, wirtschaftlich stärkste Land, dessen Wohl und Wehe von Europa abhängt, hat europapolitisch keinen Willen. Deshalb können andere es treiben, wie im Frühjahr, als der Druck aus dem Süden die Bundesregierung zwang, ihren Widerstand gegen Schulden der EU aufzugeben und einem riesigen Hilfspaket zuzustimmen. Das war ein großer Schritt. Aber die Bundesregierung kam nicht einmal auf die Idee, von den Partnern ähnliche große Schritte zugunsten Europas zu verlangen.
Deutschland – das zeigt diese Präsidentschaft – will Europa nicht mehr entwickeln. Es verwaltet Europa. Wenn man es wohlwollend formulieren will, dann versucht die Bundesregierung, Europa irgendwie zusammenzuhalten. Aber es ist ein Europa, das in seiner Gesamtheit nicht mehr durch gemeinsame Überzeugungen zusammengehalten wird, sondern nur durch Geld. Das ist kein guter Kitt. Mal ganz abgesehen von der Frage, ob so ein Europa so viel Geld wert ist.