Die OSZE wäre derzeit gefragt wie kaum je zuvor. Stattdessen lähmt sie sich selbst
Die OSZE wäre derzeit gefragt wie kaum je zuvor. Stattdessen lähmt sie sich selbst
Dieser Tage ist wieder viel die Rede von der Helsinki-Schlussakte, die im Kalten Krieg als Meilenstein in der Überwindung der Ost-West-Spannungen galt. Der 1975 unterzeichnete Vertrag feierte am gestrigen 1. August seinen 45. Jahrestag.
Die 57 Staaten der daraus entstandenen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ergehen sich an einem so wichtigen Jubiläum gerne in Unterstützungsbekundungen und heben die Errungenschaften des Dialogprozesses hervor.
Doch was ist von dieser Aufbruchsstimmung übrig? Nichts, wenn man sich den derzeitigen Zustand der OSZE anschaut. Die Organisation ist seit 19. Juli ohne Führung, da die OSZE-Staaten die vier Topdiplomaten feuerten, die sie selbst erst im Jahr 2017 ernannt hatten.
Es handelt sich um den OSZE-Generalsekretär, den Schweizer Thomas Greminger, die Direktorin des Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), die Isländerin Ingibjörg Sólrún Gísladóttir, den OSZE-Medienbeauftragten, den Franzosen Harlem Désir, und den Hohen Kommissar für Nationale Minderheiten, den Italiener Lamberto Zannier. Alle vier mussten ihre Büros im Juli innerhalb weniger Tage räumen.
Eine Verlängerung der vier Amtszeiten für weitere drei Jahre hätte eigentlich ein reiner Formalakt sein sollen. Doch die OSZE-Staaten verstrickten sich in ein Machtspiel, wodurch sie ihre eigene Organisation lahmlegten. Alles begann Anfang Juni, als bekannt wurde, dass Aserbaidschan einer Verlängerung des Mandates des OSZE-Medienbeauftragten Harlem Désir nicht zustimmen würde. Baku befand, dass Désir sein Mandat nicht korrekt ausgeübt und die Situation der Medien in Aserbaidschan „übertrieben kritisiert“ habe.
Am 25. Juni stellte sich Tadschikistan gegen die Verlängerung sowohl der Amtszeit des Medienbeauftragten als auch der ODIHR-Direktorin. Dem schloss sich die Türkei an und legte ebenfalls ein Veto gegen die ODIHR-Direktorin ein.
Die beiden Länder lagen schon länger mit der ODIHR-Direktorin im Clinch, da sie ihr vorwarfen Oppositionsvertreter zu OSZE-Menschenrechtskonferenzen eingeladen zu haben, die ihrer Ansicht nach „kriminellen Gruppierungen“ angehörten und „Terroristen“ seien.
Die Proteste Tadschikistans und der Türkei lösten eine Kettenreaktion aus und führten zu weiteren Vetos gegen das bestehende Personalpaket. So stellten sich Frankreich, Kanada, Norwegen und Island gegen eine Verlängerung der Amtszeiten von OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger und von Lamberto Zannier. Auch Armenien stimmte einer Verlängerung nicht zu.
Diese Länder wären dem Vernehmen nach sehr wohl für eine Verlängerung des politischen Gesamtpaketes gewesen, die Blockade gegen den Franzosen Harlem Désir habe jedoch eine Gegenreaktion, vor allem Frankreichs, ausgelöst.
Während Aserbaidschan, Tadschikistan und die Türkei in diplomatischen Protestnoten über ihre Gründe informierten, blieben Frankreich und die übrigen Länder der Öffentlichkeit eine eindeutige Erklärung für ihr Verhalten schuldig. Dort sollte Klarheit geschaffen werden.
In einer Aussendung vom 20. Juli bedauerte das französische Außenministerium paradoxerweise die Vakanz an der Spitze der OSZE. Was war jedoch deren genaues Motiv? Die Beibehaltung des Gesamtpakets um jeden Preis? Ein größerer Hebel bei den Verhandlungen für die Nachbesetzung? Retourkutsche? Kleinklein? Inhaltliche Kritik?
Was übrig bleibt, ist eine schwer angeschlagene Organisation, die sich in einer tiefen Krise befindet. Die Verhandlungen um die Nachbesetzung werden voraussichtlich mehrere Monate dauern, und man kann von Glück sprechen, wenn sie vor Jahresende abgeschlossen werden.
Die Krise der OSZE kommt zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Die Organisation hat sich bisher in der Corona-Pandemie nicht positionieren können, sollte aber eigentlich mit wachem Auge die Auswirkungen der Pandemie auf Menschenrechte, Demokratie und Krisenherde beobachten. Stattdessen ist sie gelähmt, und die 57 Staaten fokussieren sich auf die Verhandlungen um die Nachbesetzung. Somit entgeht der Organisation eine weitere Chance, ihre Relevanz unter Beweis zu stellen.
Gerade von Staaten wie Frankreich oder Kanada hätte man während der COVID-19-Krise eine konstruktive Rolle erwartet sowie ein Eintreten für robuste internationale Institutionen. Doch die OSZE dreht sich anscheinend lieber um sich selbst, anstatt eine Führungsrolle während einer globalen Krise zu übernehmen.
Die Vermittlungsarbeit der OSZE in den volatilen Konfliktregionen um Berg-Karabach, Transnistrien, Georgien sowie in der Ukraine geht natürlich weiter. Doch dort wird in den nächsten Monaten vor allem die Person des Generalsekretärs fehlen, der normalerweise, mit einem politischen Mandat ausgestattet, den OSZE-Vorsitz (derzeit Albanien) unterstützt.
Auch die Arbeit der OSZE im Bereich der Medienfreiheit und der Minderheitenrechte wird stark unter dem Führungsvakuum leiden. Ohne die jeweiligen Führungskräfte an der Spitze bleibt die Organisation im wahrsten Sinne kopflos.