In welcher Welt leben wir eigentlich? Ein neuer Index der Verantwortung im Zeitalter der Straflosigkeit
In welcher Welt leben wir eigentlich? Ein neuer Index der Verantwortung im Zeitalter der Straflosigkeit
Die weltweiten Entwicklungen zeigen, dass die Mächtigen immer mächtiger werden und immer weniger Verantwortung übernehmen. Oder wie Moisés Naím zu Beginn seines brillanten Buches The Revenge of Power schreibt: „Wer ist dieser neue Feind, der unsere Freiheit, unseren Wohlstand und sogar unser Überleben als demokratische Gesellschaften bedroht? Die Antwort lautet: Macht – in einer neuen, bösartigen Form.“
Die zentrale Herausforderung in den modernen internationalen Beziehungen ist die grassierende Straflosigkeit. Der Krieg in der Ukraine symbolisiert diese Entwicklung: Sowohl der Angriff selbst als auch die Kriegsführung durch die Invasionsstreitkräfte verstoßen gegen alle Gesetze und Normen des Krieges. Aber nicht nur in der Ukraine ist die Straflosigkeit auf dem Vormarsch. In allen Konfliktgebieten wird Macht ausgeübt, ohne dass Verantwortung übernommen wird und ohne dass die Rechte der von dem Konflikt betroffenen Zivilisten anerkannt werden (84 Prozent aller in Konflikten getöteten Personen sind Zivilisten).
Ich bezeichne dies als das Zeitalter der Straflosigkeit. Aber diese Straflosigkeit beschränkt sich nicht nur auf das Schlachtfeld, sondern sie offenbart sich in einem weitaus größeren Ausmaß, bei dem immense Machtunterschiede die Kontrollmechanismen aushöhlen, die unerlässlich sind, um die zunehmende Straflosigkeit zu verhindern. Jede politische Führung, welche die Justiz untergräbt oder gegen die verfassungsgemäßen Amtszeitbeschränkungen verstößt, handelt verantwortungslos. Ebenso wie jedes Unternehmen, das seine Marktposition ausnutzt, um Verbraucher zu übervorteilen. Immer dann, wenn die Rechte von Frauen missachtet werden, ist Straflosigkeit vorhanden.
Straflosigkeit umfasst die Ausübung von Macht ohne Verantwortlichkeit, was in extremer Form zu ungestraftem Begehen von Verbrechen führt. Dieser analytische Rahmen bildet die Bühne für die Veröffentlichung des weltweit ersten Atlas der Straflosigkeit bei der diesjährigen Sicherheitskonferenz. (Im Sinne der Transparenz: Ich selbst bin Mitvorsitzender des Beirats des Atlas der Straflosigkeit.)
Ein Team globaler, unabhängiger Expertinnen erstellt mit unterstützender Analyse der Eurasia Group und des Chicago Council on Global Affairs einen Index, der alle 197 Länder und Regionen in fünf verschiedenen Systemen, die mit Straflosigkeit kämpfen, anhand von 67 unabhängigen, glaubwürdigen und vergleichbaren Kennzahlen aus 29 validierten Quellen bewertet. Dies umfasst Menschenrechtsverletzungen, verantwortungslose Regierungsführung, Konflikte und Gewalt, wirtschaftliche Ausbeutung sowie Umweltschäden.
Es ist sehr wichtig zu betonen, dass der Atlas auf objektiven Daten beruht und nicht auf subjektiven. Für jedes Land greift das Team auf mehr als ein Dutzend Datenquellen zurück, um jeden der fünf Bereiche der Straflosigkeit zu untersuchen. Man kann darüber streiten, welche Datensätze einbezogen werden sollten und welche nicht, aber die Daten lügen nicht und verschweigen nichts.
Der Atlas der Straflosigkeit zeigt, dass der Kampf für die Demokratie zwar real ist, die Gegenüberstellung von Demokratie und Autokratie jedoch nicht das gesamte Bild der globalen Dynamik abbildet. Der analytische Rahmen des Atlas, der Straflosigkeit und Verantwortlichkeit gegenüberstellt, ist nuanciert und umfassend genug, um die Realität der multidimensionalen und miteinander verknüpften globalen Herausforderungen abzudecken. Während die Rechenschaftspflicht ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie ist, reicht die Demokratie dennoch nicht aus, um Rechenschaftspflicht zu gewährleisten. Der Atlas enthält zahlreiche Beispiele für demokratische Staaten, die in bestimmten Bereichen keine Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. So schneidet beispielsweise Kanada, das insgesamt einen hohen Rang einnimmt, im Hinblick auf Umweltschutz eher schlecht ab. In anderen Fällen erzielen demokratische Länder eine schlechtere Bewertung als solche, die keine vollwertigen Demokratien sind – so ist die Straflosigkeit beispielsweise in Singapur geringer ausgeprägt als in den USA.
Indem er die Realität des Jahres 2023 berücksichtigt, unterstreicht der Atlas auch das nachhallende geschichtliche Erbe. Wir erkennen, dass Konflikte nicht nur eine der wichtigsten Ursachen für Ungleichheit, sondern auch für Straflosigkeit bilden. Die überwiegende Mehrheit der Länder mit dem höchsten Grad an Straflosigkeit wurde in den letzten zehn oder mehr Jahren von Konflikten heimgesucht: Afghanistan, Myanmar, Syrien und Jemen stehen an der Spitze dieser Liste.
Eine ebenso signifikante Rolle spielt die Tatsache, dass das Erbe des Kolonialismus und des Sklavenhandels mit höheren Werten im Hinblick auf Straflosigkeit korreliert. Fast alle der 20 Länder mit der höchsten Straflosigkeit gemäß dem Atlas sind ehemalige Kolonien oder wurden durch den Kolonialismus beeinflusst. Vergleichbar damit war etwa ein Drittel der 30 am schlechtesten bewerteten Länder vom Sklavenhandel betroffen. Allerdings schneiden einige Länder, die ebenfalls unter dem historischen Erbe der Sklaverei und des Kolonialismus zu leiden hatten, wie beispielsweise Ghana und Senegal, im Atlas gut ab. Dies deutet darauf hin, dass die Beurteilung der Straflosigkeit von den Umständen abhängt, aber von politischen Entscheidungen gesteuert wird. Tatsächlich erreicht Senegal in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen sogar eine bessere Bewertung als die USA.
Der Atlas zeigt, dass die mächtigsten Länder auf internationaler Bühne, darunter China, Russland und die USA, allesamt schlechter abschneiden als ihre wirtschaftlichen und geografischen Konkurrenten. Dies verleiht der alten Weisheit, dass Macht korrumpiert und absolute Macht absolut korrumpiert, eine quantitative Dimension. Die USA liegen näher am Median als an den Spitzenplätzen, was auf schwächere Kennzahlen bezüglich Konflikten und Gewalt sowie Menschenrechten zurückzuführen ist.
Im Hinblick auf Umweltschäden greift die Straflosigkeit weiterhin ungehindert um sich, selbst in ansonsten verantwortungsvollen Gesellschaften. Kanada, das zu den Ländern mit den besten Ergebnissen im Atlas zählt und in ähnlichen Indizes traditionell gut abschneidet, liegt in puncto Umweltschäden nur geringfügig über dem Durchschnitt. Indien, China, Russland und die USA – einige der größten Treibhausgasemittenten weltweit – liegen auf den Plätzen 20, 70, 78 und 101. Auch Norwegen, Neuseeland, Singapur und Israel zählen zu den Ländern, deren Umweltbewertung hinter ihrer jeweiligen Gesamtbewertung zurückbleibt.
Das Gegenteil von Straflosigkeit ist Verantwortung. Die zentrale Herausforderung für diejenigen unter uns, die ob der zunehmenden Straflosigkeit besorgt sind, besteht also darin, die Verantwortung als „Gegenmacht“ zu fördern. Der Begriff der Gegenmacht stammt aus J.K. Galbraiths Werk American Capitalism aus dem Jahr 1952, das beschreibt, wie staatliche Eingriffe, wie zum Beispiel die Förderung von Marktmechanismen, die Gefahren eindämmen können, die von den Großkonzernen der damaligen Zeit ausgehen.
Heute müssen wir in jedem der fünf Bereiche, die der Atlas der Straflosigkeit hervorhebt, eine Gegenmacht aufbauen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe für die Regierung, sondern auch für die Privatwirtschaft und den NGO-Sektor. Wir haben Beispiele dafür, was effektiv sein kann.
Verantwortung beginnt zunächst mit Transparenz, mit der Aufdeckung von Straflosigkeit und den dafür verantwortlichen Akteuren. Der investigative Journalismus von Organisationen wie Bellingcat und der ukrainisch geführten 5 AM Coalition hat das Ausmaß der im Krieg in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen deutlich gemacht. Ähnliche Anstrengungen werden von Gruppen wie ProPublica im Hinblick auf Good Governance und von Transparency International im Bereich der wirtschaftlichen Korruption unternommen.
Des Weiteren muss die Verantwortlichkeit rechtlich abgesichert werden. Dies zeigt, wie wichtig eine unabhängige Justiz ist, um Straflosigkeit innerhalb eines Regierungssystems zu verhindern. Die Gesetze des Rechtstaats müssen aber auch gelten, wenn Privatpersonen grenzüberschreitend für Straflosigkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Die Anwendung der universellen Gerichtsbarkeit durch deutsche Gerichte hat einige Fortschritte bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern in Syrien errungen. Es ist angemessen und ermutigend, dass die Teilnehmer der diesjährigen Sicherheitskonferenz über die richtigen Rechenschaftsmechanismen für verantwortungsloses Handeln im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine debattierten.
Und nicht zuletzt hängt die Verantwortlichkeit von den Systemen und der Kultur der Verantwortlichkeit ab, ebenso wie verantwortungsloses Handeln in Systemen und Kulturen mit Straflosigkeit gedeiht. Der Aufbau eines verantwortungsvolles Systems, der wiederum eine Veränderung der organisatorischen, bürokratischen und politischen Kultur bewirken könnte, ist hier von zentraler Bedeutung. Zwei Beispiele hierfür sind der kürzlich vom US-Verteidigungsministerium initiierte „Civilian Harm Mitigation and Response Action Plan“ (Aktionsplan zur Minderung von und Reaktion auf zivile Schäden), der stärkere formale Wege für die Rechenschaftspflicht vorsieht, wenn das US-Militär Zivilisten in Konflikten schädigt, sowie die nationale Menschenrechtskommission Nigerias, die Anschuldigungen bezüglich Misshandlungen durch das Militär untersucht.
Der Kalte Krieg wurde geführt, um den Grundsatz aufrechtzuerhalten, dass Macht mit Verantwortung einhergeht und nicht unveränderlich ist. Heute verläuft der Kampf multidimensional und komplex, aber nicht weniger wichtig.