Die Welt blickt auf die Ukraine. Aber wie steht es um die humanitäre Katastrophe, die vor wenigen Monaten noch im Zentrum der Weltöffentlichkeit stand? Zur Lage in Afghanistan
Die Welt blickt auf die Ukraine. Aber wie steht es um die humanitäre Katastrophe, die vor wenigen Monaten noch im Zentrum der Weltöffentlichkeit stand? Zur Lage in Afghanistan
Nur knapp ein halbes Jahr nach der Rückkehr der Taliban an die Macht zollt die UN-Sondergesandte Deborah Lyons auf einer Konferenz in Kabul dem Regime ausdrücklich Lob. Anerkennend spricht sie vom ausschließlich aus „nationalen Einnahmen“ finanzierten Haushalt, von der Steigerung der Exporte um mehr als eine Milliarde Dollar, hebt erste Gehaltszahlungen an Staatsbedienstete und Maßnahmen zur Eindämmung der Korruption hervor. „Eine Wirtschaft aber“, fügt sie pflichtschuldig mahnend hinzu, „gedeiht nur, wenn Frauen und alle Teile einer Gesellschaft gleichberechtigt beteiligt sind.“
Dass Lyons mit Blick auf Afghanistans Zukunft von der Wirtschaft spricht, zeigt, wohin seitens der Vereinten Nationen die Reise geht. Näher hätte es gelegen, statt von der Wirtschaft vom Land zu sprechen, politischer wäre es gewesen, von der afghanischen Gesellschaft zu reden, dem Leiden angemessener hätte sie von den Menschen des Landes sprechen können. Diplomatisch gibt es dafür einen Grund: Afghanistans Güter- und Geldverkehr ist vollständig zusammengebrochen, die Felder liegen auch wegen einer Dürre brach, das Vieh stirbt, die Menschen hungern und frieren. Dem Land droht eine humanitäre Katastrophe, weshalb die Vereinten Nationen gerade den größten Spendenaufruf ihrer Geschichte gestartet haben. Über die Hälfte der Afghaninnen und Afghanen können sich nicht mehr selbst ernähren, bis in den März hinein wird diese Zahl weiter steigen. Ohne Lebensmittelspenden und medizinische Betreuung werden viele Kinder die kommenden Monate nicht überleben. Auch die Kälte und die eisigen Winde nehmen zu, afghanische Winter kennen Temperaturen von minus 25 Grad. Die Zahl der im Land umherirrenden Binnenflüchtlinge hat sich in den vergangenen Monaten um 700 000 Menschen vermehrt, viele kampieren schutzlos unter nichts als löchrigen Plastikplanen. Darum fordern die UN Verhandlungen mit den Taliban, darum richtet die EU in Kabul eine diplomatische Vertretung ein, setzen Hilfsorganisationen ihre humanitäre Arbeit fort.
Paschtunische Schreckensherrschaft
Das alles aber erlaubt nicht, von den politischen Verhältnissen abzusehen. Festzuhalten ist, dass es bislang nur vereinzelt zu Gewaltexzessen kam, wie sie die erste Taliban-Herrschaft bestimmten. Doch betreibt das Regime sechs Monate nach seinem Machtantritt landesweit und in systematischer Weise, was zunächst noch als vereinzelter Übergriff erscheinen mochte: Frauen sind aus öffentlichen Ämtern entfernt, Mädchen von weiterführender Bildung ausgeschlossen. Sie dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, weitere Wege nur in männlicher Begleitung zurücklegen, sollen sich nur verschleiert außer Haus wagen, sind im Radio nicht mehr zu hören und im TV nicht mehr zu sehen: Unpersonen. Frauen, die Widerstand leisten – es gibt sie noch immer! –, werden verprügelt, verschleppt, vergewaltigt, getötet.
Mit ihnen werden Angehörige ethnischer Minderheiten aus allen Ämtern gedrängt, mit ihnen jeder, der dem alten Staat zugerechnet wird. Doch ist die Rede von den Minderheiten unzutreffend, gründen die Konflikte des Landes doch im Herrschaftsanspruch der größten, der paschtunischen Ethnie gegen alle anderen. Dabei stellen die Paschtuninnen und Paschtunen nur etwas mehr als 40 Prozent der Bevölkerung. Auch die Taliban sind primär paschtunischer Herkunft: Die Talibanisierung des Landes setzt dessen Paschtunisierung fort. Die ethnische Differenz bestimmt auch die inneren Spaltungen der Taliban: Konflikte gibt es weniger zwischen radikalen und moderaten als zwischen der paschtunischen Mehrheit und den nicht-paschtunischen, aktuell vor allem den usbekischen Taliban.
Am stärksten leiden die persischsprachigen und schiitischen Hazara. Gewaltsame Übergriffe sind an der Tagesordnung, vielfach kommt es zu Vertreibungen und Landraub sowie zur Ausplünderung durch religiöse Steuern, die nicht nur einmal, sondern gleich mehrfach erhoben werden und wesentlichen Anteil an dem haben, was die UN-Sonderbeauftragte als Finanzierung des Staatshaushalts aus „nationalen Mitteln“ lobt. Gewaltsam bedroht werden schließlich alle Sicherheitskräfte des früheren Staates: Sie haben die meisten Toten zu beklagen. Gewalt setzen die Taliban schließlich auch gegen Journalistinnen und Journalisten ein, von denen viele verprügelt, einige auch gefoltert wurden. Im Januar hatten 6400 von ihnen ihre Stellung verloren, war die Hälfte der bis dahin zugelassenen Medienkanäle verboten.
Neu, das ist zu wiederholen, sind nicht die einzelnen Übergriffe, sondern der Umstand, dass all dies systematisch geschieht: Mit allem, was hier aufgeführt wurde, ist beschrieben, worin die Regierung Afghanistans durch die Taliban tatsächlich besteht. Das ist es, was international anerkannt wird, wenn die UN, die USA und die EU jetzt dazu übergehen, mit diesem Regime Beziehungen aufzunehmen und ihm bisher gesperrte Finanzmittel wieder zukommen zu lassen. Das wird verdeckt, wenn über eine Mäßigung der Taliban spekuliert wird. Und das ist es auch, was Hilfsorganisationen hinnehmen, wenn sie sich allein auf die humanitäre Not beziehen und offiziell mitteilen, dass es Kommandanten der Taliban gäbe, mit denen man gut zusammenarbeiten könne.
Widerstand
Zu schließen ist deshalb mit dem Verweis auf den fortdauernden Widerstand vieler Afghaninnen und Afghanen. Obwohl nur an wenigen Orten präsent, ist die bewaffnet kämpfende National Resistance Front (NRF) nach wie vor unbesiegt, hat Zulauf auch junger paschtunischer Männer. Ungebrochen todesmutig sind organisierte Proteste von Frauen. Die hier zusammengetragenen Informationen verdanken sich detaillierten Recherchen im Land verbliebener Menschenrechtsaktivisten, deren Resultate uns von geflüchteten Kolleginnen und Kollegen zugänglich gemacht werden. Sie alle haben Anspruch auf unsere Solidarität, um ihretwillen schon bleibt den Taliban jede Anerkennung zu versagen. Nicht auszuschließen ist auch weiterhin ein Zusammenbruch ihres Regimes – etwas, worauf man schon 2001 hätte setzen können. Nicht jeder Einsturz ist beklagenswert.