Kuchenhexen aus Westminster

Im Brexit-Streit wird eine Verhandlungslösung immer unwahrscheinlicher. Premierminister Boris Johnson will den „regulatorischen Orbit“ der EU verlassen

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IMAGO IMAGES/EVERETT COLLECTION
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Kuchenhexen aus Westminster

Im Brexit-Streit wird eine Verhandlungslösung immer unwahrscheinlicher. Premierminister Boris Johnson will den „regulatorischen Orbit“ der EU verlassen

Das Menü war Fisch-lastig (Jakobsmuscheln und Steinbutt), das länger als dreistündige Gespräch „offen“, „lebhaft“ und „schwierig“. Am Ende des gemeinsamen Brüsseler Abendessens von Großbritanniens Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen stand dann das, was man im Brexit-Drama zur Genüge kennt: eine abermalige Vertagung, nunmehr auf Sonntag.

Die seit dem Frühjahr geführten Verhandlungen über einen europäisch-britischen Handelsvertrag, der ab dem 1. Januar 2021 gelten soll, sind am toten Punkt angelangt. Nun soll der dritte Advent die endgültige Entscheidung bringen, nach dem Motto der langlebigsten TV-Gewinnspiel-Serie im britischen Fernsehen, die nach über zehn Jahren Laufzeit bald nach dem folgenreichen Brexit-Referendum vom 16. Juni 2016 eingestellt wurde: „Deal or No Deal?“

Gewiss, EU-Chefunterhändler Michel Barnier wird sich bis dahin mit seinem britischen Gegenüber Sir David Frost weiter austauschen. Aber sollte am Sonntag am Ende wirklich noch eine Vereinbarung stehen, dann wohl nur, weil Johnson, wendiger Populist und politisches Chamäleon, sich am Ende doch noch etwas politischen Verstand bewahrt hätte. Aber danach sieht es nicht aus. Am Donnerstagabend stimmte Johnson das Land auf die „große Wahrscheinlichkeit“ eines „No Deal“ ein.

Es mag Theater sein. Dass in der britischen Regierung noch Restbestände an Vernunft vorhanden sind, davon zeugte die Einigung, die der für Brexit-Fragen zuständige Kabinettsamt-Minister Michael Gove (wie Johnson ein Ex-Journalist und Bruder im Bunde in der „Leave“-Kampagne) mit dem EU-Kommissionsvizepräsidenten Maroš Šefčovič eher still und leise in Sachen Nordirland und inneririscher Grenze vergangenen Dienstag erreichte. Wichtigster Punkt: Die britische Regierung verzichtet auf die Teile eines neuen, britischen „Binnenmarktgesetzes“, die das von Johnson mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen gebrochen hätten – und damit internationales Recht.

Nun bleibt es in der Nordirlandfrage so, wie es Johnson mit der EU vereinbart hatte, dann aber nicht mehr wahrhaben wollte: dass nämlich die europäisch-britische Zollgrenze zukünftig in der Irischen See, nicht aber auf der irischen Insel verlaufen wird. Letzteres hätte dem Karfreitagsabkommen von 1998, das den Katholiken und Protestanten in Nordirland Frieden brachte, den Boden entzogen. Für Nordirland gilt dann bald, was bis vor kurzem für Hongkong galt: eine Nation, zwei Systeme. Belfast mit den sechs Nordprovinzen bleibt wirtschaftlich Teil des EU-Binnenmarkts, politisch Teil des Vereinigten Königreichs.

Auch bei der Frage der zukünftigen Handelsbeziehungen – beziehungsweise Großbritanniens Zugang zum europäischen Binnenmarkt – liegt der Schlüssel in London, nicht in Brüssel und schon gar nicht in Berlin. In letzterem Irrglauben hatte schon Johnsons Vorvorgänger David Cameron sein Land auf die schiefe Brexit-Bahn gesetzt: Mit Angela Merkels Hilfe sollte die EU Großbritannien noch mehr Sonderrechte gewähren, auf dieser Grundlage dann das spätere Referendum gewonnen werden. Und unter den Brexiteers glaubten tatsächlich viele, die mächtige deutsche Autoindustrie mit ihrem ach-so-großen Interesse am Großbritannien-Geschäft werde schon dafür sorgen, dass Berlin und damit die EU einlenke.

So ist es bekanntlich nicht gekommen. Aus EU-Perspektive verlangen die Briten im Grunde Unmögliches: Zugang zum Binnenmarkt, ohne sich an EU-Regeln halten zu müssen. „Having your cake and eating it“, ist die bekannte britische Redewendung, die genau solch einen widersinnigen Wunsch beschreibt. Nicht umsonst erklärte sich Johnson vor dem Brexit-Referendum als „pro-cake and pro-eating-it.“ Es ist überaus verwunderlich, dass gerade die Regierung des Landes, das der Welt den Begriff und das Konzept eines „Clubs“ bescherte, es nicht verstehen will: Wer austritt, kann nicht weiter das Clubhaus nutzen, schon gar nicht, wenn er sich erklärtermaßen nicht an die Regeln halten will. Würde die EU dies Großbritannien zugestehen, wäre es um die europäische Einigung geschehen.

Die Entscheidung für „No Deal“ könnte Johnson leichter fallen, da der Unterschied zwischen beiden Varianten kaum noch groß ist. Immer weiter haben die Konservativen ihren Standpunkt radikalisiert und auf eine immer losere Beziehung zum Rest des europäischen Kontinents gesetzt. Selbst mit einem EU-GB-Handelsabkommen litte die britische Wirtschaft, die von der Coronavirus-Pandemie bereits schwer gezeichnet ist (mit einem Einbruch von minus 11 Prozent rechnet die Regierung für 2020). Ohne Abkommen würde auch die EU beeinträchtigt, ungleich mehr aber das Vereinigte Königreich, das in den ersten Wochen des neuen Jahres im Chaos versinken dürfte – es ist schlicht nicht vorbereitet. Es wird ein ungemein teurer Preis sein, den Johnson sein Land dafür zahlen lässt, „den regulatorischen Orbit der EU“ zu verlassen.

Neben den Klauseln zu Gewährleistung eines „fairen Wettbewerbs“ und dem Automatismus von Strafzöllen im Fall einer Verletzung, gegen den sich Johnson insbesondere wandte, waren es Fischereifragen, die eine Einigung verhinderten. An diesen lässt sich besonders gut zeigen, dass Johnson sein Land in eine Vergangenheit zurückführen will, die es nie gab. Als Großbritannien dem EU-Vorläufer EWG 1973 beitrat, hatte die einstige Weltseemacht noch ein ganz eigenes, minimalistisches Verständnis davon, was Hoheitsgewässer anging: drei Seemeilen und nicht mehr. Erst im Laufe der Mitgliedschaft änderte London seine Haltung, führte aber einen „Kabeljau-Krieg“ mit Island, als dieses ein allzu großes Gebiet für sich beanspruchte. Die UN-Seerechtskonferenz führte schließlich zu ausverhandelten Fangzonen.

Mit „Take Back Control“, dem „Rückholen von Rechten“ von der EU, hat das Ganze also nichts zu tun. Die Frage, ob der am Mittwoch verspeiste Heilbutt „britisch“ war oder nicht, dürfte sogar Johnson als absurd abtun. Dennoch wird er seinem Land erklären müssen, warum er Zölle und Handelsbeschränkungen ab dem 1. Januar in Kauf nehmen will, weil er deren hypothetische Verhängung in der Zukunft partout nicht akzeptieren mag. Als „staatsmännisches Versagen“ hat Johnson einst die Möglichkeit eines „No Deal“ bezeichnet. Und es stimmt schon: Der Fisch stinkt vom Kopf her.

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