Langer Marsch

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Langer Marsch

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Ziemlich genau vor einem Jahr erschien in Deutschland ein Sachbuch, dessen Vorhersagen in ihrer Radikalität zwar einleuchtend, von der Alltagswirklichkeit seinerzeit allerdings weit entfernt waren. Geschrieben wurde es von dem indisch-amerikanischen Politik­wissenschaftler Parag Khanna (Jahrgang 1977), einem Tausendsassa der internationalen Gelehrtenszene mit eigener Denkfabrik (FutureMap). Das Buch mit dem Titel Move. Das Zeitalter der Migration erregte Aufmerksamkeit. Gleichwohl war das Thema seinerzeit nicht gerade en vogue. Im Gegenteil: Deutschland hatte die Flüchtlingsströme des Syrienkrieges weitgehend verdaut, etwa die Hälfte der Migranten in Beschäftigung gebracht und die schulpflichtigen Kinder integriert. Dazu zwang Corona die Welt in den Stillstand.

Zwölf Monate nach Erscheinen dieses Buches aber sieht alles sehr anders aus, vor allem in Europa. Move – Europa ist in Bewegung. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Wladimir Putin, der einen unerträglich grausamen Krieg gegen die Ukrainer und auch gegen seine eigenen Landsleute führt. Bisher sind rund 3,5 Millionen Ukrainer nach Westen geflohen – auf unbestimmte Zeit, manche wohl für immer. Fachleute schätzen, dass es acht oder gar zehn Millionen werden könnten, ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung. Und plötzlich ist Khannas Buch aus einem Grund aktuell, den er so nicht vorhersehen konnte.

Seine Kernthese aber bleibt davon unberührt: Migration wird die geographischen Kraftfelder dieser Welt verändern. Und zwar in bisher nie gekanntem Ausmaß. Dass die Treiber der von ihm erwarteten gewaltigen Migrationsströme nicht unbedingt Kriege sein werden, sondern vor allem die Folgen des Klimawandels sowie demographische und technologische Entwicklungen, kann man in diesen Tagen nur hoffen. Dass Wanderungsbewegungen Staaten herausfordern, jene voranbringen, die sie zulassen und sich um Integration bemühen, während sie solche zurückwerfen, die sich den Fremden verschließen, wird man aber schon in ein paar Jahren in Ansätzen nachvollziehen können.

Denn die Flüchtlingsströme aus der Ukraine in die EU, die derzeit noch nicht einmal zu einem Zehntel ihres Gesamtumfangs in Deutschland ankommen, werden die Gesellschaften der EU-Mitgliedsländer verändern. Sie werden wohl auch das gesamteuropäische Gefüge nicht unberührt lassen. Dass der Zustrom derzeit mit Wucht vor allem jene europäischen Staaten trifft, die sich der Flüchtlingsaufnahme 2015 verweigerten, ist dabei nur ein Nebenaspekt. Auch ihre Prosperität wird vom Umgang mit der aktuellen Migrationsbewegung abhängen.

„Revolutionäre Momente wirken sich über Jahrzehnte hinweg aus“, schreibt Khanna. „Die Geschichte ist voller seismischer, weltweiter Störungen: Pandemien und Seuchen, Kriege und Völkermorde, Hungersnöte und Vulkanausbrüche. Und immer wieder nach großen Katastrophen zwingt uns unser Überlebensinstinkt, den Ort zu wechseln.“

Khannas Buch blickt bis 2050 und damit weit in die Zukunft. Der Autor sieht nur eine Antwort auf das Wechselspiel zwischen Kriegen, Unruhen, Wirtschaftskrisen, technologischen Innovationen und dem Klimawandel: die Mobilität. Seit nunmehr vier Wochen scheint es, als würfe ein nicht für möglich gehaltener Krieg im Osten Europas seine Schatten auf diese Entwicklung voraus.

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