Lebensleistung

Kolumne | Direktnachricht

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Lebensleistung

Kolumne | Direktnachricht

„In deutschen Filmen werden Juden meist nur in Schwarz-Weiß gezeigt. Wir schlagen selten zurück,“ sagt Dima, die Hauptfigur im Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“. Statt Basecap setzt sich der junge Mann demonstrativ eine Kippa auf. Vorher chillte er im Hof der Plattenbauten, nun versteckt er sich geduckt in einem Kellereingang.

Die Szene, natürlich in Schwarz-Weiß getaucht, zeigt eindringlich, woran die viel beschworene deutsche Aufarbeitung und Erinnerungskultur krachend scheitert. Beim Widerstand gegen Nazis denkt unsere Mehrheitsgesellschaft an Sophie Scholl, Claus von Stauffenberg oder Oskar Schindler. Im schlimmsten Fall dichtet man die Täter/innen der eigenen Familie sogar zu Widerständigen um. So bejahen 29 Prozent aller Deutschen die Frage, ob ihre Vorfahren während des Zweiten Weltkrieges potenziellen Opfern geholfen hätten – die tatsächliche Menge an Helfer_innen wird auf sehr viel weniger, etwa 0,1 bis 0,3 Prozent geschätzt.

Die Namen und Geschichten der jüdischen Widerständigkeit sind in dieser Erinnerungskultur wiederum gar nicht erst verankert. Zum Beispiel von Mala Zimetbaum, die in Auschwitz zahlreichen Häftlingen das Leben rettete. Von der Gruppe Nakam, die sich für den systematischen Massenmord an Jüdinnen_Juden mit Giftanschlägen rächen wollte. Oder von Herschel Grynszpan, der auf das NSDAP-Mitglied Ernst vom Rath schoss.

Und der fiktive Dima aus dem Jahr 2020? Der räumt gleich zu Beginn des Films mit schwarz-weißen Klischees auf und drückt einem antisemitischen Mitschüler die Faust ins Gesicht. Seine Geschichte reißt darüber hinaus die der sogenannten Kontingentflüchtlingen an. „Als man Anfang der 1990er-Jahre Jüdinnen und Juden die Einreise [aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion] ermöglichte, hoffte man nicht nur, die deutsche Gesellschaft von ihrer Geschichte zu entlasten, sondern auch, die jüdischen Gemeinden wiederzubeleben“, beschreibt es die Journalistin Erica Zingher, die damals selbst auf diesem Weg nach Deutschland kam.

Um die 200 000 Jüdinnen_Juden leben heute hier, die meisten von ihnen postsowjetische Zugewanderte. Oft wurden die Abschlüsse und Ausbildungen aus ihren Herkunftsländern nicht anerkannt, was damals in der Regel einen kompletten Neuanfang bedeutete. Gerade im Alter führt das zur Armut, da die deutsche Rentenberechtigung erst mit dem Zeitpunkt der Einwanderung einsetzt. Laut der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland existieren rund 70 000 jüdische Senior_innen, unter ihnen Überlebende des Holocaust, unterhalb der Armutsgrenze. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages forderte die ZWST die sofortige Anerkennung der Lebensleistung jüdischer Zugewanderter, bevor diese auch in Armut sterben.

Das Fazit jüdischer Sichtbarkeit bleibt ein bitteres. Die anhaltende antisemitische Dämonisierung, wie zum Beispiel bei den Querdenken-Protesten, schafft eine Hypersichtbarkeit für Jüdinnen_Juden, die in (noch mehr) Diskriminierung und Gewalt mündet. Gleichzeitig werden diese Konsequenzen oder eine Realität wie die der Altersarmut mehrheitsgesellschaftlich ausgeblendet und Jüdinnen_Juden lieber in Schwarz-Weiß betrachtet.

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