Leiernde Wahlkampfschlager

Rot-Grün-Rot ist ein Popanz, aber kein Grund für Ausschließeritis

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PICTURE ALLIANCE/ZOONAR | DESIGNIT
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Leiernde Wahlkampfschlager

Rot-Grün-Rot ist ein Popanz, aber kein Grund für Ausschließeritis

Angesichts ihrer niederschmetternden Umfragewerte suchen Armin Laschet und die Unionsparteien ihr Heil jetzt in der Neuauflage einer „Roten-Socken-Kampagne“ und warnen eindringlich vor einem möglichen Linksbündnis aus SPD, Grünen und der Partei Die Linke nach der Bundestagswahl. Ob sie gut daran tun, ist fraglich. Erstens könnte es für einen verschärften Konfrontationskurs schon zu spät sein, nachdem die Briefwahl längst im Gange ist und bis zum Urnengang nur noch drei Wochen verbleiben. Und zweitens stellt Rot-Grün-Rot in den Augen eines Großteils der Wählerschaft heute kein Schreckgespenst mehr dar. Was 1994 als Wahlkampfschlager noch funktioniert hatte, ließ sich schon vier Jahre später – beim rot-grünen Wahlsieg unter Gerhard Schröder – nicht mehr wiederholen. Im Jahre 2021 wirkt es wie vollends aus der Zeit gefallen.

Die jüngsten Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen und anderer Institute sollten der Union zu denken geben. Nicht nur, dass bei der Bewertung der verschiedenen Bündnisse die – von der SPD angeführte – Ampel am besten abschneidet. Selbst mit einer Linkskoalition können sich inzwischen mehr Wähler anfreunden als mit einer Regierung unter Führung der Union – sei es Jamaika, eine Deutschland-Koalition oder die Fortsetzung des jetzigen rot-schwarzen Bündnisses. Dass SPD und Grüne vor diesem Hintergrund keine große Nervosität verspüren, liegt auf der Hand, so unvorteilhaft ihr „Rumeiern“ in der Koalitionsfrage in den Fernsehdebatten auch wirken mag. Selbst wenn die Warnung vor Rot-Grün-Rot den ein oder anderen verunsicherten Wähler von der Stimmabgabe für SPD oder Grüne abhält, bleibt es aus strategischer Sicht für beide Parteien ratsam, ein Zusammengehen mit der Linken nicht schon vor der Wahl auszuschließen.

Jeder mit jedem

Zwei Gründe sind dafür maßgeblich. Zum einen geht es bei der Wahl ja darum, ein Maximum der potenziellen Wählerschaft zu erreichen. Dies würde verhindert, wenn man durch den Ausschluss einer bestimmten Koalitionsoption einen Teil dieser Wähler ohne Not verprellt. Weil SPD und Grüne sich als linke Parteien verstehen, gibt es sowohl in der Wählerschaft als auch unter ihren Mitgliedern und Funktionären große Gemeinsamkeiten mit den inhaltlichen Positionen der Linkspartei. Dies gilt bis hinein in die Außenpolitik, obwohl diese weiterhin den größten Stolperstein für eine Zusammenarbeit darstellt. Zum anderen haben sich die Modalitäten der Koalitionsbildung durch die Auffächerung der Parteienlandschaft grundlegend verändert. Zweierkoalitionen mit dem Wunschpartner an der Seite, wie sie bis Mitte der 2000er-Jahre noch gang und gäbe waren, sind passé. Im heutigen Sechsparteiensystem sind faktisch nur noch lagerübergreifende Dreiparteienkoalitionen möglich. Damit erhöht sich zugleich die Zahl der arithmetisch möglichen und politisch gangbaren Bündnisvarianten.

Im von Union, SPD, Grünen und FDP gebildeten demokratischen Zentrum sind längst alle Parteien untereinander koalitionswillig und -fähig. Während sich Union und Grüne schon seit Ende der 2000er-Jahre für Bündnisse wechselseitig öffneten, schloss die FDP eine Ampelkoalition mit SPD und Grünen sowohl 2005 als auch 2009 aus. Nachdem die Sozialdemokraten umgekehrt keine Bereitschaft für ein Zusammengehen mit der Linken erkennen ließen (an den Grünen wäre ein solches Bündnis seinerzeit nicht gescheitert), fehlte es Rot-Grün deshalb an einer Machtoption. Das galt auch 2013, als SPD, Grüne und Linke nach dem knappen Scheitern der FDP und AfD an der Fünfprozenthürde im Bundestag überraschend über eine Mehrheit verfügten. Die SPD zog daraus die Lehre, indem sie in einem förmlichen Parteitagsbeschluss 2013 festschrieb, auf Koalitionsaussagen oder -absagen vor Wahlen – auch in Richtung der Linken – künftig generell zu verzichten. 2017 spielte das keine Rolle, weil das Linksbündnis von einer gemeinsamen Mehrheit weit entfernt war. Warum sollten die Sozialdemokraten ausgerechnet jetzt, da eine solche Mehrheit im Raum steht, von dem Beschluss abrücken?

Scholz gegen das parteieigene linke Quartett?

Dass Olaf Scholz die Ampel einem Linksbündnis vorziehen würde, darf man unterstellen. Die von ihm in dieser Richtung ausgesandten Signale waren spätestens seit März unüberhörbar und stellen vermutlich kein Täuschungsmanöver dar. Ob seine Präferenz auch von der Partei- und Fraktionsführung geteilt wird, ist dagegen nicht gewiss. Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans und Rolf Mützenich stehen in ihren politischen Positionen deutlich links von Scholz, von Kevin Kühnert ganz zu schweigen. Der mögliche künftige Kanzler wird also sein ganzes Gewicht aufbringen müssen, um das Liebäugeln mit Rot-Grün-Rot in den eigenen Reihen zu beenden und der SPD das Bündnis mit den ungeliebten Liberalen nach der Wahl schmackhaft zu machen. Helfen könnten ihm dabei die Grünen, deren inhaltliche und mentale Distanz zur Linken mittlerweile größer ausfällt als jene der SPD.

It’s the Außenpolitik, stupid!

Am deutlichsten zeigt sich das in der Außenpolitik. Dass die vermeintliche Regierungsunfähigkeit der Linken ausgerechnet im Kontext der Debatte um den deutschen Afghanistan-Einsatz erneut zum Thema geworden ist, entbehrt nicht der Ironie, waren und sind es doch die anderen Parteien (einschließlich der Grünen und der FDP), die das Desaster dieses Einsatzes seit 2002 zu verantworten haben. Die Gelegenheit, sich bei aller berechtigten Grundsatzkritik in der Stunde der Not auf die Seite der Soldatinnen und Soldaten zu stellen und die Evakuierungsmission zu unterstützen, ließ die Linke ungenutzt – so wie sie es die gesamte Legislaturperiode über versäumt hat, ihre außen- und friedenspolitischen Positionen programmatisch anzupassen.

SPD und Grüne kommt dieses Versäumnis jetzt indirekt zugute – es hilft ihnen, die „Rote-Socken-Kampagne“ der Union ins Leere laufen zu lassen, ohne die Option eines Linksbündnisses als mögliches Druckmittel in Koalitionsverhandlungen von vornherein aus der Hand zu geben. Denn wenn das Wahlergebnis neben einer – heute schon fast sicher erscheinenden – Mehrheit für die Ampel auch eine Mehrheit für Rot-Grün-Rot hergibt, läge es allein an der FDP, ein solches Szenario zu verhindern. Dass die Liberalen sich ihrer „staatspolitischen“ Verantwortung ein weiteres Mal verweigern werden, erscheint nach dem Jamaika-Fiasko von 2017 nur schwer vorstellbar.

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