Warum der Kampf gegen die Radikalisierung auf Telegram so schwierig ist – und was dennoch möglich ist
Warum der Kampf gegen die Radikalisierung auf Telegram so schwierig ist – und was dennoch möglich ist
Es ist ein Machtkampf mit vielen Ebenen: Die Bundesregierung will gegen die App Telegram vorgehen, um Dynamiken der Desinformation und Radikalisierung zu durchbrechen – insbesondere von radikalisierten Gegnern der Coronapolitik. Die Plattform steckt voller strafbarer Inhalte: Gewalt- und Mordaufrufe, Beleidigungen, Handel mit gefälschten Impfzertifikaten, Verleumdungen, Veröffentlichung privater Daten, Handel mit harten Drogen und mit Waffen. Einschüchterungsversuche wie der Aufmarsch vor dem Privathaus der sächsischen Sozialministerin Petra Köpping wurden darüber vorbereitet und die Durchführung terroristischer Anschläge unter anderem gegen den sächsischen Ministerpräsidenten diskutiert.
Am Fall Telegram rächt sich, dass der Staat bei der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken bisher vor allem die privaten Plattformen in die Verantwortung zu nehmen sucht. Doch Telegram hält sich weder an Gesetze noch reguliert es sich selbst.
Wie viel Telegram steckt in den Protesten, die derzeit immer wieder eskalieren?
Das Katz-und-Maus-Spiel, mit dem die Demonstrierenden jeden Montag auf Hunderten sogenannter Spaziergänge die Polizei über die Belastungsgrenze bringen, wird vor allem mit Smartphone und PC gespielt. Lustig ist das schon lange nicht mehr, auch wenn viele Protestierende dabei sichtlich ihren Spaß haben. Bereits bevor es Corona überhaupt gab, haben vor allem Rechtsextreme und Verschwörungsprediger auf Telegram ein Netzwerk mit Zehntausenden Mitgliedern geknüpft. Mit der Pandemie sind nicht nur die Mitgliederzahlen der Gruppen angewachsen, sondern ist auch die Zahl der Gruppen in verschiedenen Wellen im Zusammenhang mit Ereignissen in der realen und digitalen Welt explodiert. Mehrere Tausend Gruppen existieren – teils nur mit wenigen Mitgliedern, teils gehören aber auch mehr als 200 000 Menschen zu rechten Verschwörungskanälen. Die aktivsten und größten Gruppen, die das Netzwerk und darüber Logistik und Narrative der Proteste prägen, werden von Rechtsextremen gesteuert und stecken voller Falschnachrichten, Antisemitismus und Gewalt. Zudem hat sich der Schwerpunkt vom heterogenen Querdenken-Spektrum zu den klar rechtsextremen Freien Sachsen verschoben. Die digitale Pfeife der Menschenfänger von Telegram steuert nun Woche für Woche die protestwillige Masse und erzwingt durch die Dezentralisierung der Proteste die Überforderung von Ordnungsbehörden und Polizei.
Verbannung ist keine Lösung
Innenministerin Nancy Faeser will dem Treiben auf Telegram das Handwerk legen und die Plattform in die Verantwortung nehmen. Doch die Betreiber der App sitzen in Dubai und interessieren sich herzlich wenig für Forderungen der deutschen Regierung. Nach Willen der Innenministerin sollen nun Google und Apple dabei helfen, Druck aufzubauen, indem die Monopolisten Telegram aus ihren Stores verbannen. Für diesen Fall arbeiten die Betreiber bereits an alternativen Lösungen, mit denen der Service aus jedem einfachen Internetbrowser erreichbar sein soll. Eine Sperrung der App, die in demokratischen Gesellschaften zwar den Demokratiefeinden dient, aber in undemokratischen Regimen zur Koordinierung von demokratischen Bewegungen genutzt wird, ist nicht nur technisch kaum möglich. Sie würde zugleich auch internationale Bemühungen um Menschenrechte und Demokratie konterkarieren und von Diktaturen als Rechtfertigung für weitreichende Internetsperren dienen. Die Verbannung durch Apple und Google wäre ein empfindlicher Schlag – vor allem für mögliche Monetarisierungspläne der Plattform, die bisher kein Geld aus Werbung einnimmt.
Überhaupt ist die Finanzierung hinter Telegram so intransparent, dass es schon eine besondere Denkleistung ist, der App überhaupt zu vertrauen – insbesondere für Leute, die sonst hinter allem die CIA, Bill Gates oder eine jüdische Weltverschwörung wittern.
Nicht zuletzt: Verschwindet Telegram, wächst der Hydra ein neuer Kopf. Um Löschungen auf YouTube zu verhindern, richten Rechtsextreme und andere „Querdenker“ ihren Blick bereits auf Blockchain-Technologien. Nicht nur, aber auch staatsferne bis staatsfeindliche Libertäre und Rechtsextreme setzen große Hoffnungen auf die Dezentralität der Blockchain als nächste Stufe der Privatisierung des öffentlichen und kommunikativen Raumes, fern von zentralen oder gar staatlichen Regulierungsmöglichkeiten.
Kann der Staat also gar nichts tun? Müssen wir uns als Gesellschaft von einigen Zehntausend Solidaritätszersetzern und globalisierten Datenströmen terrorisieren lassen?
Der Staat muss das Recht auch im Netzt selbst umsetzen
Es führt kein Weg daran vorbei, dass der Staat die Rechtsdurchsetzung auch im Netz stärker selbst in die Hand nimmt. Ausgestattet mit den richtigen Mitteln, Befugnissen, Gesetzen und Know-how könnten engagierte Cybercops, Staatsanwälte und Richterinnen mit eigenen Recherchen zumindest die übelsten Inhalte ahnden und dabei das Vertrauen radikalisierter Milieus in die nur vermeintlich sichere Plattform stören. Die „BAO Berg“ zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch hat gezeigt: Es geht.
Für Diskurs- und Ausstiegsbereite sollte aufsuchende digitale Beratung gefördert werden, um in den direkten Kontakt mit aufgehetzten Mitläufern zu gehen. Die Vermittlung von Medienkompetenz und die prädiktive Erforschung der Herausforderungen kommender Technologien wie Blockchain und Metaverse müssen ausgebaut und die sozialstrukturellen Ursachen von Egoismus und Rechtsextremismus endlich angegangen werden: weniger Ellenbogen und Konkurrenz, mehr Solidarität und Gemeinsinn.
Zu teuer? Die finanziellen und gesellschaftlichen Kosten des Katz-und-Maus-Spiels, der Zersetzung von Demokratie, Solidarität und Zusammenhalt in der Pandemiebekämpfung durch einige Zehntausend digitaler Hasardeure sind allemal höher. Denn das gefährliche Spiel wird nicht aufhören, sondern immer weitergehen. Ob die russischen Aggressionen oder die Klimakrise: An Anlässen für interessensgeleitete Desinformation und Aufhetzung wird es auch künftig nicht mangeln. Anstatt zu hoffen, dass private Internetplattformen sich mehr oder weniger freiwillig zu Hilfssheriffs machen lassen, müsste eine angemessene Besteuerung privater digitaler Infrastrukturen endlich die gesellschaftlichen Kosten der Digitalisierung ausgleichen.