Vielleicht aber doch erst später. Der mühsame pandemische Rollenwechsel der Liberalen
Vielleicht aber doch erst später. Der mühsame pandemische Rollenwechsel der Liberalen
Als eine von vier Oppositionsfraktionen arbeiten zu können, ist definitiv angenehmer, als darauf reduziert zu sein, außerparlamentarisch die öffentliche Aufmerksamkeit suchen zu müssen. Die FDP konnte nach der Bundestagswahl 2017 (10,7 Prozent der Zweitstimmen) ihren politischen Einfluss steigern – gerade im Vergleich zu ihrem knappen Scheitern an der Fünfprozenthürde bei der Wahl 2013. Der Start in die 19. Legislaturperiode misslang der Partei dennoch gründlich. Und so deutete im November 2017 wirklich nichts darauf hin, dass aus dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen für die FDP und Christian Lindners bis zum Überdruss zitierten Begründung dafür („Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“) tatsächlich für die Partei noch etwas Gutes erwachsen könnte. Dass es anders kam, hat sowohl mit der Pandemie zu tun als auch mit einer geschickten Neuinterpretation des Ausstiegs aus den damaligen Verhandlungen.
Die parlamentarische Opposition in der Bundesrepublik ist an Balanceakte gewöhnt: Einerseits schätzt die bundesdeutsche Wählerschaft den Konsens mehr als den politischen Streit. Andererseits ist es für den Parlamentarismus, aber auch das eigene politische Überleben unerlässlich, Alternativen zur Regierungspolitik aufzuzeigen und sich so zu profilieren. Dass mit Ausnahme der weder koalitionsfähigen noch -würdigen AfD alle Oppositionsfraktionen im Bundestag grundsätzlich eine Beteiligung an der nächsten Regierung anstreben, macht das Balancieren noch anspruchsvoller. Und wenn dann noch in einem ganz besonderen Wahljahr eine Pandemie sowohl das Regieren als auch die Ausübung der parlamentarischen Kontrolle verändert, müssen neue Rollen und Praktiken eingeübt werden.
Den Liberalen fiel das schwer: Ihre Sympathisanten lehnten die Corona-Beschränkungen weit häufiger ab als die Anhängerschaft von CDU/CSU, SPD oder den Grünen. Bei der Kritik an Covid-19-Maßnahmen ähnelten sich die Einstellungen von FDP- und AfD-Anhängern mehr, als den Liberalen lieb war. Dass die Partei dennoch nur gelegentlich der Versuchung erlag, ihre Kritik und Vorwürfe populistisch zu nutzen, kann man ihr zugutehalten. An der Wahlurne hat ihr die intensive Nutzung der parlamentarischen Oppositionsinstrumente offenbar genützt. So hatte der Partei- und (damalige) Fraktionsvorsitzende Lindner Ende Oktober 2020 gerügt, der Bundestag könne die Beschlüsse der Bundesregierung nur noch nachträglich zur Kenntnis nehmen. Derartige Entscheidungsprozesse drohten laut Lindner, „unsere parlamentarische Demokratie zu deformieren“. Die liberalen Bedenken mündeten im April 2021 schließlich in den (vor kurzem vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesenen) Verfassungsbeschwerden von 80 FDP-Abgeordneten gegen die Novelle des Infektionsschutzgesetzes. Die Beschwerdeführer bestritten sowohl die Wirksamkeit als auch die Verhältnismäßigkeit der darin verhängten Ausgangsbeschränkungen, die von der FDP auch gern als „Ausgangssperren“ bezeichnet werden.
Als wäre die Abgrenzung zur Coronakritik der AfD nicht schon anspruchsvoll genug gewesen, geriet die widerspruchsfreie Positionierung als Schützerin massiv eingeschränkter Grundrechte für die FDP angesichts ihrer Beteiligung an drei Landesregierungen (Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein) durchaus zu einem die Öffentlichkeit verwirrenden Kraftakt. Umso mehr überraschte es, als Lindner, der im Wahlkampf auch nicht vor einer Selbstdenunziation diesbezüglicher Phantasielosigkeit zurückgeschreckt hatte, sich schließlich doch für die „Ampel“ begeistern konnte. Erleichtert wurde der FDP diese Neuorientierung ausgerechnet durch ihr Jamaika-Debakel von 2017: Nach dem knappen Vorsprung der SPD vor der Union bei der Bundestagswahl 2021 setzte sich – von Lindner geschickt lanciert – ein neuer Blick auf die Ursachen des Novemberausstiegs 2017 durch: Ein wichtiger Grund für den liberalen Rückzug sei damals das unfaire, weil die FDP an den Rand drängende, Klüngeln von CDU und Grünen gewesen. Von dieser neuen Interpretation profitierte neben der FDP, die bei den Ampelgesprächen auf gar keinen Fall mehr vernachlässigt, geschweige denn inhaltlich vergrault werden durfte, aber auch die Öffentlichkeit: Indiskretionen aus den Verhandlungen blieben ihr ebenso erspart wie peinlich anmutende Balkonbilder.
Dass sich dann jedoch der Übergang vom schwarz-roten zum rot-grün-gelben Pandemiemanagement sehr mühsam gestaltete, ist in erster Linie der FDP zuzuschreiben. Ihr Rollenwechsel von der konsequent kompetitiven Opposition hin zur verantwortungsbewussten Regierungspartei überzeugte schon deshalb nicht, weil die Pandemie jedes Erbarmen verweigerte: Hatte man während des sommerlichen Wahlkampfs frohen Mutes und bei niedrigen Inzidenzen noch darauf setzen können, verfassungsrechtlich begründet die „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ auslaufen lassen und womöglich an einem baldigen „Freedom Day“ sogar das Ende aller Corona-Restriktionen feiern zu können, verdarben sowohl die spätherbstliche Vierte Welle als auch das Bundesverfassungsgericht den liberalen Spaß.
Aus der Opposition heraus kann man leicht fordern, von der Inzidenz als alleiniger Größe für die Pandemiebewertung abzurücken. Trägt man jedoch Regierungsverantwortung, muss man sich damit herumplagen, dass die Hospitalisierungsrate mit zu großer Verzögerung alarmiert und die vielbeschworene Eigenverantwortung bei der Impfentscheidung oft genug zu einem Ergebnis führt, über das sich allein Omikron freut.
Mit Ausnahme derjenigen, die – nachdem Angela Merkel nun ja wirklich „weg“ ist – ein neues mobilisierendes Feindbild brauchen, will in der Bundesrepublik Deutschland niemand, dass grundrechtseinschränkende Corona-Maßnahmen verlängert oder sogar verschärft werden müssen. Aber genauso wenig Interesse besteht daran, dass Markus Söder auch noch in fünf Jahren den ewigen Gruß des Murmeltiers zitieren darf. Es ist bestimmt anstrengend, nicht nur in Talkshows, sondern nun auch noch im Kabinett den Belehrungen des neuen Bundesministers für Gesundheit, Karl Lauterbach (SPD), zuhören zu müssen. Aber wer aus Angst vor Fehlern, der Sorge um den Verrat an liberalen Überzeugungen oder auch „nur“ den vier Landtagswahlen des Jahres 2022 halbherzig handelt, wird gegen das Virus verlieren. Unter bestimmten Bedingungen kann auch Regierung „Mist“ sein.