Die Taliban befinden sich im Aufwind, 20 Jahre internationaler Afghanistaneinsatz stehen auf der Klippe
Die Taliban befinden sich im Aufwind, 20 Jahre internationaler Afghanistaneinsatz stehen auf der Klippe
Am 29. Februar 2020 vereinbarte die Trump-Regierung im Alleingang vertraglich mit den Taliban den Abzug aller internationalen Streitkräfte bis zum 30. April 2021, gebunden an die Zusage der Taliban, dass von Afghanistan keine Bedrohung mehr für die USA und ihre Verbündeten ausgehen würde. Angekündigt wurde die Aufnahme innerafghanischer Friedensverhandlungen für den 10. März 2020.
Zehn Wochen vor dem Abzugstermin fasste das Verteidigungsministertreffen der Nato noch keinen Beschluss, wie sich die Nato verhalten wird. Die neue US-Regierung unter Joe Biden prüft noch, ob die Taliban ihre vertraglichen Verpflichtungen eingehalten haben und was die Folgen eines kompletten „Sturzabzuges“ sein könnten. In den vergangenen Wochen dominierten in Washington wie bei Verbündeten die Stimmen für eine nochmalige Verlängerung des Einsatzes. Darauf scheint es auch hinauszulaufen.
Trotzdem: Gegenwärtig sind die Perspektiven des Nato-Einsatzes, der internationalen Aufbauhilfe, die Zukunft des „Friedensprozesses“ und Afghanistans an Ungewissheiten und krassen Risiken kaum zu überbieten. Das deutsche Einsatzkontingent mit seinen rund 1 100 Soldaten bereitet sich auf verschiedene Extremszenarien vor.
Vor fast zwanzig Jahren begann der internationale Afghanistaneinsatz, der mit der Zeit zum größten, kompliziertesten, teuersten und bei weitem opferreichsten Kriseneinsatz der (westlichen) Staatengemeinschaft, der Nato und Deutschlands wurde.
Seine Startziele waren die Bündnissolidarität mit den am 11. September 2001 angegriffenen USA, die Verfolgung der Drahtzieher der Angriffe und die Beseitigung des sicheren Hafens internationaler Terrorgruppen in Afghanistan. Nach dem schnellen Sturz des Taliban-Regimes kamen als strukturelle Terrorprophylaxe die Stabilisierung und Förderung verlässlicher Staatlichkeit in einem von 23 Kriegsjahren zerrütteten Land hinzu.
Die vom UN-Sicherheitsrat autorisierte Internationale Unterstützungstruppe ISAF sollte die Aufbauunterstützung absichern. Der Deutsche Bundestag billigte diese Einsatzbeteiligung mit großer Mehrheit.
Siebzehn Jahre lang hatten die USA und Verbündete sich nicht ernsthaft um eine Verhandlungslösung mit den Taliban bemüht. Viel zu lange dominierte vor allem auf Seiten Washingtons die Illusion, eine Aufstandsbewegung wie die Taliban militärisch besiegen zu können. Gespräche zu einer politischen Lösung begannen erst, als die strategische Schwäche von Regierung und Nato unübersehbar war. Die in Doha vereinbarten innerafghanischen Gespräche begannen mit sechsmonatiger Verspätung.
Im Auftrag des Auswärtigen Amtes unterstützt ein Team der Berliner Berghof Foundation das Verhandlungsteam der Republik Afghanistan. Deutsche Mediationsexperten berichteten im November aus Doha, dass dort die gegnerischen Parteien im Unterschied zu anderen Friedensprozessen immerhin respektvoll und ernsthaft miteinander sprechen würden.
Die verbreitete Hoffnung, mit den Verhandlungen würden Terror und Krieg in Afghanistan nachlassen, wurde bitter enttäuscht. Der von afghanischer Regierung und Bevölkerung wie international breit geforderte Waffenstillstand wurde von den Taliban kategorisch abgelehnt.
Die Koalitionskräfte der Beratungsmission Resolute Support blieben seit dem Abkommen wohl von Angriffen verschont. Die Angriffe auf die afghanischen Sicherheitskräfte und die Zivilgesellschaft nahmen hingegen extrem zu. Die Zahl der Zivilopfer durch gezielte Tötungen stieg 2020 um 169 Prozent. Im Visier waren vor allem öffentliche Bedienstete, Journalisten, zivilgesellschaftliche Aktivisten, Religionsgelehrte, Abgeordnete und Menschenrechtsverteidiger. Laut des Afghanistan Indexes der Brookings Institution fielen 2020 mehr als 10 000 afghanische Soldaten und Polizisten. Dass Präsident Trump im Alleingang die US-Streitkräfte im Land von 12 000 im Februar 2020 auf 2500 im Januar 2021 reduzieren ließ, wurde einhellig als Auftrieb für die Taliban gewertet.
Mehrere UN-Berichte, zuletzt vom Januar, betonten, die Taliban hätten weiter enge Beziehungen zu Al-Qaida, von denen 200 bis 500 Kämpfer im Land seien. Die Verbindungen zu internationalen Terrorgruppen seien keineswegs gekappt. Zusammen mit der erheblichen Verzögerung der Friedensgespräche lässt sich zu Recht feststellen, dass die in Doha fixierten Voraussetzungen für einen Komplettabzug noch nicht gegeben sind.
Was wären die mutmaßlichen Folgen eines – angesichts der Lage kaum noch möglichen – Abzuges in zehn Wochen und einer Einsatzverlängerung gegen den Willen der Taliban?
Für den letzteren Fall haben die Taliban angekündigt, den verbliebenen rund 12 000 Koalitionskräften einen „großen Krieg“ zu bereiten. Der Verhandlungsprozess könnte zusammenbrechen. Doha-Insider sehen aber bei den Taliban auch ein großes Interesse, das Abkommen mit den USA in der Grundstruktur zu erhalten.
Ein kompletter Abzug zum 30. April würde die überlebensnotwendigen Beratungs- und Unterstützungsinfusionen für den afghanischen Staat blockieren. Armee und Polizei wären den oft überlegenen Taliban ausgeliefert. Die Gefahr gilt als „sehr real“, dass dies in einen entfesselten Bürgerkrieg führen könnte.
Auf der Hand liegt, dass ein solcher Super-GAU wieder massenweise Menschen in die Flucht treiben würde. Das wäre ein Mehrfach-Desaster: für die kriegsgeprüften Menschen in Afghanistan, für die regionale und internationale Sicherheit, für die UN wie die Nato und die Bundesrepublik. Es wäre nicht zuletzt ein Totalschaden für die Glaubwürdigkeit westlicher und auch deutscher Sicherheitspolitik.
Auch unter einem US-Präsident Biden wollen die USA den Großeinsatz in Afghanistan zu Ende bringen und zu einer Verhandlungslösung zwischen afghanischer Republik und den Taliban kommen.
Hierzu gibt es keine vernünftige Alternative. Deshalb darf trotz des Abzugsdissenses und trotz wahrscheinlich wiederaufflammender Angriffe auf Koalitionskräfte der Gesprächsprozess nicht aufgekündigt werden. Er ist vielmehr durch vertrauensbildende Maßnahmen und Unterstützungsangebote auf verschiedenen Ebenen zu stärken. Die Taliban haben wiederholt betont, wie sehr auch ein künftiges Afghanistan auf internationale Unterstützung angewiesen sei.
Zwanzig Jahre internationaler Afghanistaneinsatz: Trotz vieler positiver Einzelanstrengungen und Teilfortschritte wurden zentrale Ziele nicht erreicht, dominierten immer wieder Machbarkeits-Illusionen und Selbstbetrug. Diese Gefahr besteht auch jetzt.
Deshalb ist von ausschlaggebender Bedeutung, dass sich jetzt die Verbündeten und explizit die Bundesregierung ehrlich machen zu diesem Einsatz und seine Wirkungen ressortübergreifend analysieren. Um endlich und grundlegend aus dieser Riesenanstrengung zu lernen.