Marmeladen­paradoxon

Goodbye Zweierkoalitionen, adieu letzte Volkspartei, arrivederci Stabilität – wird Deutschland europäisch?

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PICTURE-ALLIANCE/DPA | OLIVER BERG
Als sich die Union zuletzt nach 16 Jahren an der Macht in die Opposition begab: Helmut Kohl am 28. September 1998.
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PICTURE-ALLIANCE/DPA | OLIVER BERG
Als sich die Union zuletzt nach 16 Jahren an der Macht in die Opposition begab: Helmut Kohl am 28. September 1998.

Marmeladen­paradoxon

Goodbye Zweierkoalitionen, adieu letzte Volkspartei, arrivederci Stabilität – wird Deutschland europäisch?

Es mag etwas übertrieben sein, wenn im Ausland im Hinblick auf die Wahlergebnisse des vergangenen Sonntags bisweilen sogar von einer Erdbebenwahl die Rede ist. Aber nichtsdestotrotz handelt es sich um eine echte Zäsur, und zwar vor allem im Hinblick auf das deutsche Parteiensystem und womöglich auch die CDU/CSU, die nun auch hochoffiziell ihren Nimbus als „letzte Volkspartei Europas“ verloren hat. Bei einem Wahlergebnis von weniger als 25 Prozent mag das nach wie vor der subjektive Anspruch sein, objektiv fehlt der Partei jedoch der breite Einzugsbereich über verschiedene Milieus, Schichten und demographische Segmente hinweg, der zum Konzept der Volkspartei gehört.

Bleiben wir zunächst bei dem, was dieser Absturz der CDU/CSU in Verbindung mit dem Abschneiden der anderen Parteien für das Gesamtsystem bedeutet. Wahl- und Parteienforschern galt die Republik, ob im Bonner oder Berliner Gewand, die längste Zeit als ein Fall, der sich durch eine bemerkenswert hohe Aggregationsfähigkeit in Form von einigen wenigen (Volks-)parteien und entsprechend stabile Regierungen auszeichnete. Noch in den frühen 1990er-Jahren, als die Fragmentierung des Parteiensystems in Ländern wie Italien, Frankreich oder den Niederlanden längst eingesetzt hatte, wo eine Vielzahl von mittelgroßen oder kleinen Parteien vor der Wahl oftmals strategische Bündnisse schließen mussten, wollten sie einigermaßen erfolgreich sein, verbuchten CDU/CSU und SPD als große Volksparteien noch 1994 nicht nur zusammen mehr als 75 Prozent der Wählerstimmen auf sich, sie waren bis dahin, abgesehen von der dauerpräsenten FDP und den kürzlich hinzugestoßenen Grünen, auch weitgehend unter sich geblieben.

Das Aufbrechen dieses von den beiden Volksparteien dominierten Systems vollzog sich dann langsam, aber stetig. Grüne wie auch PDS und später die Linke wurden zu Dauergästen im Bundestag; 2017 kam die AfD dazu. Gleichzeitig schmolzen die Prozentpunkte der SPD nach 1998 bekanntlich kontinuierlich und immer dramatischer dahin, sodass nur noch die Union glaubhaft machen konnte, Volkspartei im vollumfänglichen Sinn zu sein.

Auf den Punkt gebracht lautet daher einer der zentralen Befunde, der aus dem Wahlsonntag abgeleitet werden kann, dass dieses überkommene Parteiensystem nach langwährenden Erosionsprozessen nun auf absehbare Zeit verschwunden ist. Zwar mag es nicht dauerhaft und ständig auf ein Sechsparteien-System hinauslaufen – immerhin ist die Linke auf Bundesebene der Relegation ins Außerparlamentarische, die der FDP schon 2013 geblüht hatte, nur knapp entgangen. Doch wenig spricht dafür, dass es dauerhaft zu einer Rekonsolidierung in Richtung eines Drei- oder auch Vierparteienystems kommen könnte.

Eine der wichtigsten Konsequenzen aus dieser Entwicklung manifestiert sich in Form von Regierungen, die abgesehen vom Fall der Großen Koalition künftig ausschließlich von Drei-Plus-X-Koalitionen gebildet werden dürften. Wie ist dies zu bewerten? Beschwichtigend wird nun darauf hingewiesen, dass derartige Konstellationen in anderen Ländern wie Belgien, den Niederlanden, Italien, aber auch in Israel mit ihren Vielparteiensystemen längst gang und gäbe seien, es handele sich also keineswegs um eine bedenkliche oder gar pathologische Entwicklung der Demokratie, sondern eher um eine Angleichung an die Normalität, wie sie viele, wenn nicht gar die meisten Parlamente kennzeichne.

Tatsächlich lehrt der Blick auf andere Kontexte in der unmittelbaren europäischen Nachbarschaft, dass auch in Vielparteiensystemen ohne hegemoniale Akteure Politik gemacht werden kann. Allerdings muss man sich fragen, ob in solchen Konstellationen die Politik gemacht werden kann, derer es im Falle Deutschlands nach einhelliger Meinung bedürfte: Schließlich hat nicht nur die Union ein Modernisierungsjahrzehnt gefordert; die Spatzen pfeifen es durch offene Scheunentore, dass dem Land weitreichende Umbrüche ins Haus stehen, die politisch auf den Weg gebracht werden müssen.

Bedenkt man, dass – um bei den erwähnten Beispielen zu bleiben – Israel zuletzt vierer Wahlen bedurfte, um eine Regierung zu bilden, Italien in den vergangen zehn Jahren nicht weniger als sieben Regierungen verschlissen hat, wobei am Anfang und Ende dieser Zeitspanne jeweils die Notbremse einer „Expertenregierung“ gezogen werden musste, um den politischen Herausforderungen Herr werden zu können, und dass es in Belgien doch tatsächlich im Jahr 2011 (ebenso 2020) zu Demonstrationen kam, auf denen die zentrale Forderung lautete, dass man nach nicht enden wollenden Koalitionsverhandlungen ganze 200 Tage nach der Wahl nun endlich eine Regierung haben wolle, wird man bei allen Chancen, die in dieser neuen Konstellation stecken, auch die Skeptiker ernst nehmen müssen. Erste Hinweise, ob das politische Systems Deutschlands diese Zäsur verdaut, werden sich daraus ergeben, ob eine Dreier-Konstellation geschmiedet werden kann und ob der neue Regierungschef die Neujahransprache hält – oder Angela Merkel dies noch einmal kommissarisch übernehmen muss.

Auch für die CDU/CSU ist die Wahl eine Zäsur, denn angenommen, eine Ampelkoalition übernimmt die Regierung, wird die Union anders als beim Machtverlust 1998 nicht nur mit einer wesentlich kleineren Fraktion auf den Oppositionsbänken Platz nehmen, sie wird sich dort auch neben der AfD wiederfinden. Dieses Nebeneinander wird denjenigen unter den Christdemokraten, die sich um eine kategoriale Abgrenzung bemühen, das Leben nicht leichter machen, schon aus dem einfachen Grund, dass man gemäß den parlamentarischen Gepflogenheiten immer wieder gemeinsam mit der AfD (und übrigens auch der Linkspartei) gegen die Regierung stimmen wird.

Verschärft wird diese Situation dadurch, dass der Union in den nächsten Monaten das ins Haus stehen dürfte, was man als Interregnum bezeichnet, in der eine alte Unions-Formation unter Merkel-Führung Vergangenheit ist, die neue sich aber noch nicht herausgebildet hat. Es wird eine Zeit der Kämpfe sein und der politischen Unternehmer, die ein strategisches Möglichkeitsfenster erblicken, um sich in den zu erwartenden Turbulenzen irgendwie in die oberen Ränge spülen zu lassen, solange das Partei-Establishment in mehr oder weniger ausgeprägter Agonie gefangen ist. Dass die Union sich am Ende dieses Prozesses stabilisiert, aber mehr rechts als mittig präsentiert, ist ein durchaus plausibles Szenario, wobei damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die längerfristige Zukunft keine Chance mehr auf die Wiedergeburt als Volkspartei bestehen dürfte.

Ob dieses Szenario aber eintritt, ist noch keineswegs ausgemacht. Im nächsten Jahr stehen unter anderem im Saarland und Schleswig-Holstein Wahlen an, bei denen die CDU-Amtsinhaber gute Chancen auf einen Sieg haben. Gelänge dies, wären sie die Ersten, die innerhalb der Partei wieder über ernsthaftes politisches Kapital verfügten – und sowohl Tobias Hans als auch Daniel Günther dürften eine andere inhaltliche und stragegische Ausrichtung im Sinne haben; eine, die zumindest versucht, an die alten volksparteilichen Ambitionen der Christdemokratie anzuschließen.

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