Marmeladen­paradoxon*

Editorial des Verlegers

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Marmeladen­paradoxon*

Editorial des Verlegers

Liebe Leserinnen und Leser,

die Nachwirkungen des vergangenen Sonntags beginnen erst langsam, politische Gestalt anzunehmen. Neben dem obligatorischen Vorsondieren, eigentlichen Sondieren und dereinstigem offiziellen Verhandeln über Koalitionsbündnisse, stellen sich auch Fragen, die über den Tag hinausweisen.

In dieser Ausgabe des Hauptstadtbriefs am Samstag untersuchen zwei ausgewiesene Experten eben jene gesellschaftliche Zersplitterung, die sich auch im Wahlergebnis und im Parlament widerspiegelt.

Thomas Biebricher setzt das Regieren in Dreierkonstellation in Beziehung zu den Entwicklungen in vielen europäischen Staaten, die schon länger mit unsicheren Regierungsmehrheiten und kreativen (bis dysfunktionalen) Bündnissen leben.

Frank Decker vollzieht nach, wie es zu einem Bundestag mit 735 Abgeordneten kommen konnte, selbst wenn noch eine höhere Zahl befürchtet wurde, dennoch der größte Bundestag aller Zeiten.

Biebricher, der nach Stationen in Freiburg und Frankfurt inzwischen in Kopenhagen lehrt, hat 2019 das Buch über „die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ geschrieben und kann eindrucksvoll und über bloße Liveticker-Nachrichten hinaus zeigen, was der Gang in die Opposition für die Union bedeutete, sollten CDU und CSU zwischen AfD und Linken sitzen.

Decker, der in Bonn Politikwissenschaft lehrt, kann das komplizierte Wahlrecht elegant aufschlüsseln und den notwendigen Anziehungsgrad der politischen Stellschrauben markieren, wie einer weiteren Aufblähung des Parlaments entgegengewirkt werden könnte, ohne demokratische Prinzipien und Errungenschaften zu verletzen.

*Den schönen Begriff des Marmeladen-Paradoxons – wer vor dem Regal im Supermarkt mit Brotaufstrichen aller Farben und Formen steht, „muss sich über Entscheidungsschwierigkeiten nicht wundern“ – verdanken wir übrigens Ursula Münch, der glänzenden Politologin, Leiterin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing und regelmäßigen Hauptstadtbrief-Autorin.

Anne Wizorek sendet eine Direktnachricht von größter Dringlichkeit. Gerade angesichts der raum- und aufmerksamkeitsabsorbierenden Beschäftigung mit der Bundestagswahl, auch hier im Hauptstadtbrief, ist es dringend notwendig, auf die anhaltende Pflegekrise an deutschen Krankenhäusern und Altenheimen aufmerksam zu machen. Alle Parteien, ob sie sich gerade anschicken, Regierungsverantwortung zu übernehmen oder die auch nicht unehrenhafte Aufgabe haben werden, Her Majesty’s opposition zu sein, wie die Rolle im Vereinigten Königreich so angemessen wie würdevoll bezeichnet wird, sollten sich schnell darum bemühen, bessere Arbeits- und Lebensverhältnisse für Pflegekräfte zu ermöglichen.

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich – bis morgen

Ihr Detlef Prinz

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