Memorial

Russisch-deutsche Geschichtskonkurrenzen: Kriegsende oder Tag des Sieges?

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IMAGO/JÜRGEN RITTER
Gedenkstätte und Museum Seelower Höhen in Brandenburg am Rand vom Oderbruch
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IMAGO/JÜRGEN RITTER
Gedenkstätte und Museum Seelower Höhen in Brandenburg am Rand vom Oderbruch

Memorial

Russisch-deutsche Geschichtskonkurrenzen: Kriegsende oder Tag des Sieges?

Vor einem Jahr fielen die Feierlichkeiten zum russischen Tag des Sieges am 9. Mai der Pandemie zum Opfer. Die groß geplante Militärparade in Moskau musste in reduzierter Form auf den 24. Juni verschoben werden, wobei der Tag des Sieges im russischen Festtagskalender ein zentraler Referenzpunkt bleibt. Trotz anhaltend hoher Infektionszahlen hält der Kreml dieses Jahr an einer Militärparade fest, und parallel sind eine Reihe an Gedenkveranstaltungen online geplant.

Im heutigen Russland finden Gegenstimmen zu den offiziellen Geschichtsinterpretationen, insbesondere in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Zeit der Sowjetunion, nur schwer Gehör. Orte alternativer Geschichtserzählungen, die beispielsweise die 1980er- und 1990er-Jahre auch als Zeit demokratischer Freiheiten darstellen, wie das Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg, werden von den staatsnahen Medien heftig kritisiert. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, der in den „wilden 1990ern“ mündete, wird heute als warnendes Gegenstück zum heroischen Sieg im Krieg am 9. Mai 1945 gesehen.

Diesen geschichtlichen Grundkonsens teilen weite Schichten der russischen Gesellschaft. Er steht jedoch in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zur Wahrnehmung in anderen Ländern. In Deutschland findet der Gedenktag für das Kriegsende am 8. Mai statt. Statt Helden zu feiern, wird in erster Linie der Opfer gedacht. Wie geschichtliche Sachverhalte in Deutschland gesehen werden, zeigt eine am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) durchgeführte Online-Umfrage (unterstützt von der Daimler und Benz Stiftung). Sie fragt nach dem Geschichtsbewusstsein von mehr als 2000 in Deutschland lebenden Menschen im Alter von 16 bis 65 Jahren.

Aus russischer Sicht ist unbestreitbar, dass die Sowjetunion den größten Beitrag zum Ende des Krieges geleistet hat. Der als heldenhaft erinnerte Marsch der Roten Armee nach Berlin ist der Dreh- und Angelpunkt der russischen Kriegserinnerung. Im politischen Diskurs wie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung geht die Erinnerung an selbstlose Soldaten einher mit einem Gedenken an die mehr als 20 Millionen zivilen und militärischen Opfer.

Die Kluft im geschichtlichen Selbstverständnis zwischen Deutschland und Russland ist eklatant. Unter den befragten Deutschen geben nur 7 Prozent an, dass die Sowjetunion den größten Beitrag zum Sieg geleistet habe – ein knappes Drittel ist der Ansicht, dass es die Sowjetunion gemeinsam mit westlichen Alliierten gewesen sei, weitere 44 Prozent nennen ausschließlich die Westalliierten.

Auffällig sind bei dieser Frage die Erinnerungsbrüche zwischen Ost und West. Bewohner der ostdeutschen Bundesländer nennen dreimal so häufig ausschließlich die Sowjetunion. Darüber hinaus treffen diese Aussage besonders häufig Männer. Das von Russland suggerierte Bild militärischer Stärke trifft dort anscheinend auf offenere Ohren.

Ein positiver Blick in Deutschland auf die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg geht mit deutlich negativeren Ansichten in Bezug auf die Wiedervereinigung einher. Im Bundesdurchschnitt ist der Blick auf die Wiedervereinigung zwar positiv, doch äußern 14 Prozent der Befragten negative Sichtweisen. Unter den negativen Beurteilungen werden insbesondere die wirtschaftlichen Folgen genannt sowie die sozialen Brüche seit 1989. Stärker als ein Ost-West-Unterschied tritt dort die generationelle Kluft hervor. Menschen bis Mitte 30 haben einen überwiegend sehr positiven Blick auf die Wiedervereinigung.

Am 27. Januar 1945 erreichten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz – die Befreiung des größten nationalsozialistischen Konzentrationslagers ist in der russischen Weltkriegserinnerung wichtig. Nach den Urhebern der Auschwitz-Befreiung gefragt, kann in Deutschland nur knapp die Hälfte der Befragten die richtige Antwort geben, wobei etwa ein Viertel die Befreiung den US-Truppen zuspricht. Die verbleibenden Befragten sahen sich nicht in der Lage, auf diese Frage zu antworten. Hinter den Zahlen steckt eine generationelle Bruchlinie bei den Mitdreißigern – 55 Prozent der über 38-Jährigen kannten die richtige Antwort, jedoch nur 36 Prozent der Jüngeren. Darüber hinaus sticht der Unterschied zwischen den Geschlechtern hervor – 20 Prozent mehr Männer als Frauen antworteten richtig. Im Ost-West-Vergleich zeigt sich, dass beinahe zwei Drittel der Menschen, die heute auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wohnen, die richtige Antwort gaben, etwa 20 Prozent mehr als Menschen auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik.

Auch wenn zwischen den heutigen Deutschen und dem Kriegsende mehr als 75 Jahre liegen, sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung der Ansicht, dass eine Entschuldigung für die Opfer des Holocausts, wie beispielsweise von Frank-Walter Steinmeier im Januar 2020 in Yad Vashem ausgesprochen, wichtig sei. Aber es sind insbesondere junge Menschen mit weniger Vertrauen in die staatlichen Institutionen und geringerer politischer Partizipation, die sich nicht mit diesem offiziellen Umgang mit der Vergangenheit identifizieren.

Die etablierte opferzentrierte Erinnerung wird in Deutschland zukünftig auch durch die zeitliche Distanz zum Krieg stärker herausgefordert werden. In Russland sind heroische Geschichtserzählungen einstweilen vor Veränderung durch generationellen Wandel geschützt. Dagegen befindet sich der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Frage nach der Bewertung des Holocausts in Deutschland in einem tiefen Wandel mit möglicherweise unerwartetem Ausgang.

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