Die Zukunft der Ozeane ist auch nach dem UN-Beschluss noch lange nicht im Trockenen
Die Zukunft der Ozeane ist auch nach dem UN-Beschluss noch lange nicht im Trockenen
Das Schiff habe das Ufer erreicht, seufzte Rena Lee erleichtert, als sie in der von ihr geleiteten UN-Konferenz zum Schutz der Biodiversität auf Hoher See nach einem wahren Verhandlungsmarathon die Einigung auf ein entsprechendes Abkommen verkündete. Das poetische Bild war nach 15 Jahren zäher Verhandlungen verständlich, Pathos ist aber nicht angebracht. Der Teufel liegt zum einen wie immer im Detail, zum anderen in der Weigerung wichtiger Regierungen, das Abkommen zu ratifizieren. Es war kein Zufall, dass sich dem eben jene beiden Imperien entziehen, die zur gleichen Zeit die Aneignung von Territorien mit militärischen Mitteln betreiben oder ankündigen – Russland und China – und die weltgrößten Fischfangflotten unterhalten. Sie können den „Triumph des Multilateralismus“ durchkreuzen, den UN-Generalsekretär António Guterres am 4. März 2023 verkünden wollte. Zählt die Geopolitik, könnte am Ende auch ein Wrack das Ufer erreicht haben.
Der Schutz der Hohen See – das sind rund zwei Drittel der Weltmeere und der größte Teil der Erdoberfläche – ist überfällig. Sie hat eine ähnliche Funktion wie die Regenwälder und Moore für die Ökosphäre und ist ähnlich bedroht, auch hier zeigt die Uhr fünf vor zwölf: Rabiate Überfischung, dramatische Vermüllung vor allem durch Plastik, exzessiver Verkehr von Container- und Kreuzfahrtschiffen und ungenierte Rohstoffausbeutung am Meeresboden sind die Stichworte. Bis 2030 sollen 30 Prozent der Meere unter Schutz gestellt werden – was das genau bedeutet, wird die juristische Exegese der Vertragstexte zeigen. Alles, was jenseits der nationalen Hoheitsgewässer liegt, ist bisher ein rechtsfreier Raum, der mit guten Worten und freiwilligem Verzicht allein nicht reguliert werden konnte. Jetzt soll es verpflichtende Umweltverträglichkeitsprüfungen geben.
Dass sich 160 Staaten darauf einigen konnten, hängt weniger mit dem Respekt vor mariner Flora und Fauna zusammen als mit der gewachsenen Einsicht, dass bei anhaltender Überfischung, Vermüllung und Zerstörung des Meeresbodens jene „Ökosystemdienstleistungen“ auszufallen drohen, von denen rohstoffsüchtige Konsumentenländer weiter profitieren wollen: Fischers frische Fische, Manganknollen und Kobaltkrusten, ganz abgesehen von riesigen Erdöl- und Erdgasfeldern und dem schier unerschöpflichen Gen-Pool für neue Medikamente. Gegen solche Interessen die Weltmeere als gemeinsames Erbe der Menschheit zu sichern, ist ein mutiges Unterfangen, mit dem vor Jahrzehnten Elisabeth Mann und ihr Gatte Giuseppe Antonio Borgese begonnen haben, gefolgt von zahlreichen Meeresstewards und Seerechtskennern. Sie mussten zuschauen, wie sich Meere degradierten und der imperiale Landhunger weiter auf die Ozeane übergriff. Nun warten sie auf die Ratifizierung des New Yorker Abkommens durch mindestens 60 Staaten.
Es wird an ihnen liegen, die Ausfüllung des historischen Abkommens kritisch zu begleiten, das durch drei weitere erfolgreiche Treffen gestützt wird: das Nairobi-Abkommen zur Vermeidung von Plastikmüll im Februar 2022, das Montreal-Abkommen zum Schutz der Biodiversität vom Dezember 2022 und die Konferenz „Our Ocean“ in Panama im März 2023, die den Tiefseebergbau einschränken soll und Ländern des Globalen Südens materielle Kompensationen anbietet. Das Monitoring des (noch nicht geschriebenen) Regelwerks muss eine (ebenfalls noch zu gründende) internationale Hochseeschutzbehörde übernehmen. Aus diesem Stoff sind die Rechtsstreitigkeiten gemacht, mit denen „technologieoffene“ und „realistische“ Lobbyisten den Umweltschutz seit Jahrzehnten hinauszögern oder zurückwerfen. Die Internationale Meeresbodenbehörde (ISA) mit Sitz in Kingston, Jamaika, hat derzeit kaum wirksame Zugriffsrechte. Beschlüsse zur Einrichtung von Schutzzonen können mit einer Dreiviertelmehrheit gefällt werden, Russland und China können sich dort – ein Präzedenzfall? – nicht widersetzen. Eine „gebietsbezogene Bewirtschaftung“ soll nur nach kriterienbasierter Begutachtung durch ein wissenschaftliches Gremium und verbindliche Umweltverträglichkeitsprüfungen durch die beteiligten Staaten erfolgen können. Auch wollen die „entwickelten Vertragsstaaten“ einen Sonderfonds zur Beteiligung ärmerer Länder einrichten.
Deshalb bleibt einstweilen die Hälfte der Meeresorganismen vom Aussterben bedroht. Sie hat übrigens niemand gefragt, ob sie den Ökosystemdienstleistungen zustimmen oder was sie von Menschenansammlungen halten, die sich als ihre loyalen Makler ausgeben. Der größte Teil des Meeresbodens ist terra incognita. Doch man stelle sich zumindest als Gedankenexperiment eine Konferenz unter Anwesenheit der Meeresbewohner vor, bei der nicht nur lokale Fischer, Greenpeace und Meeresschwärmer das Wort ergreifen: Welche Argumente würde man zu hören bekommen? Welche Petitionen wären zu erwarten? Welche Seeblockaden und Sabotageakte müsste die Menschheit befürchten? Solange die Verantwortlichen diese Stimmen nicht hören wollen, werden sie die (Zer-)Störung der marinen Vielfalt, nunmehr in größerem Schuldbewusstsein und auf höherer Technologiestufe, „schonend“ fortsetzen. Doch die Meeresforschung hat Advokaten und Stewards aufzubieten, die die Sprachen nicht nur der Wale verstehen und übersetzen können. Mögen sie nicht länger als „Spinner“ abgetan werden.